Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
nervös. Schließlich begann sie:
    »Meine Nichte hat Ihnen gesagt, dass ich in Thailand bin, ja?«
    Juliens Lächeln verschwand. Die Schweißtropfen an seinem Haaransatz verrieten ihn. Er war doch nicht so entspannt, wie er sich gab. Die Kellnerin stellte zwei Tassen Kaffee vor sie. Cyrille konzentrierte sich, um die Führung des Gesprächs zu übernehmen, und wog jedes Wort ab, so als säße sie in ihrem Sprechzimmer und er wäre auf dem Diwan ausgestreckt. Doch sie spürte, dass sich ihre Beziehung verändert hatte, dass sie selbst sich verändert hatte. Wann? Wie? Warum? Sie konnte es nicht sagen. Ganz offensichtlich gab sie in dem Gespräch nicht den Ton an. Sie hob die Tasse an die Lippen und sagte, ehe sie trank:
    »Was wollen Sie mich so Dringliches fragen?«
    Julien nahm einen Schluck Kaffee.
    »Ich muss herausfinden, was du weißt.«
    Er duzte sie noch immer, sie ignorierte es. Dies war nicht der rechte Moment, um ihm zu widersprechen.
    »Worüber?«
    »Über die Behandlung, die ich in Sainte-Félicité bekommen habe.«
    Cyrille wandte plötzlich den Blick ab, was Julien nicht entging.
    »Eine Behandlung, durch die ich vergessen habe, was mit meiner Mutter geschehen ist.«
    Cyrille Blake stellte ihre Kaffeetasse etwas zu heftig ab, sodass einige Tropfen auf den Tisch spritzten. Ihre Miene verriet aufrichtige Überraschung.
    »Ihre Mutter?«
    »Sie hatte keinen Unfall.«
    »Entschuldigung, aber ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«
    »Das hier habe ich bei Marie-Jeanne gefunden.«
    Er zog den Zeitungsausschnitt aus der Tasche, faltete ihn auseinander und legte ihn auf den Tisch. Cyrille las den kurzen Artikel.
     
    Le Provençal 20.   Juni 1991
    Drama in Vallon des Auffes: Laurianne Daumas, eine Angestellte des Vereins »La Mie du Pain«, der die Hilfsbedürftigsten unterstützt, wurde gestern Abend von einem Mann niedergestochen und starb kurz darauf. Ihr kleiner Sohn Julien wurde von den Großeltern aufgenommen.
     
    »Wusstest du davon?«, fragte Julien.
    »Natürlich nicht«, verteidigte sich Cyrille und las die Meldung noch einmal.
    Sie hob den Blick zu ihm.
    »Es tut mir leid … Sie hatten mir gesagt, dass … sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, nicht wahr?«
    »Das habe ich auch über zwanzig Jahre gedacht. Aber sie ist ermordet worden!«
    Seine Stimme erstarb. Der kleine Junge in ihm lehnte sich auf.
    »Ich war elf Jahre alt, fast zwölf. Wie konnte ich das vergessen? Was hast du mit mir gemacht, dass ich das vergessen habe?«
    Seine Nasenflügel bebten vor Zorn.
    »Erklär es mir …«
    Cyrille öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Hände auf den Mund, dachte kurz über ihre Alternativen nach und entschied sich für den direkten Weg.
    »Hören Sie, ich muss Ihnen etwas sagen, was nicht leicht zu ertragen sein wird. Vielleicht sind Sie danach bereit, sich in Behandlung zu begeben.«
    Julien musterte die Frau, die seine Ärztin gewesen war, eindringlich mit seinen grauen Augen.
    »Erst gestern habe ich erfahren, dass man in Sainte-Félicité Fehler gemacht hat.«
    »Was für Fehler?«, fragte Julien heftig.
    »Mit dem Ziel, Traumata zu behandeln, hat ein Arzt vor zehn Jahren bestimmten Patienten, unter anderem Ihnen, zu hoch dosierte Medikamente verabreicht. Offenbar hat diese Behandlung bestimmte Zonen Ihres Gehirns lahmgelegt. Das wäre die Erklärung für Ihre Amnesie. Das Medikament sollte den Schmerz Ihres Traumas lindern. Aber es hat Ihre Erinnerung daran vollständig ausgelöscht.«
    Julien verzog das Gesicht.
    »Aber ich kann nicht vergessen haben, was man meiner Mutter angetan hat!«
    »Bewusst schon. Unbewusst hat Ihr Gehirn allerdings alles gespeichert. Das würde auch Ihre wiederkehrenden Albträume erklären. Ihre … Verstümmelungen … Das sind die typischen Auswirkungen von posttraumatischem Stress.«
    Julien blinzelte.
    »Das habe ich unmöglich vergessen können«, wiederholte er trotzig.
    »Ich sage Ihnen ja, Sie haben es nicht vergessen. Ihr Gehirn weiß, dass etwas Tragisches passiert ist, und es versucht mit aller Macht, es aus Ihrem Unterbewusstsein ans Licht zu befördern.«
    »Aber das ist nur ein Traum. An die Wirklichkeit erinnere ich mich nicht. Denn wenn ich mich erinnern würde, dann hätte ich diesen … Dreckskerl gefunden.«
    »Wozu?«
    »Um mich zu rächen.«
    »Sich zu rächen …?«
    »Ja, er ist nicht verurteilt worden, weil man ihn für schizophren und nicht zurechnungsfähig erklärt

Weitere Kostenlose Bücher