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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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zwar den Anfang des Kolloquiums verpassen, für ihre eigene Präsentation aber sicher rechtzeitig zurück sein. Vor allem aber würde sie Arom dabei behilflich sein, die Wahrheit ans Licht zu bringen, und dieser würde ihr im Gegenzug helfen, ihr Gedächtnis wiederzufinden. Egal, was Benoît geschrieben hatte, sie wollte ganz genau wissen, wie sich alles zugetragen hatte, wie sie gegen ihre Überzeugung in eine geheime klinische Versuchsreihe verwickelt worden war. Sie würde sehr vorsichtig sein, und alles würde gut gehen. Auf der Treppe blieb sie kurz stehen, zog ihr iPhone heraus und rief das Bild der kleinen Thailänderin auf.
    Traurig betrachtete Cyrille die lächelnde Dok Mai. Was haben sie mit dir gemacht? Was werde ich für dich tun können? Seufzend wandte sie den Blick ab, um die Tempeldächer, die bunt wie Teppiche waren, zu bewundern.
    Vor dem Tempel des Smaragd-Buddha reihte sie sich in die Schlange ein. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte man in Chiang Rai nach der Zerstörung eines Tempels eine mit vergoldetem Stuck überzogene Buddha-Statue gefunden. Als der Gips abbröckelte, stellte sich heraus, dass er aus Jade war. Die heilige Statue wurde nach Laos gebracht und kehrte schließlich von dort nach Thailand zurück, wo sie in dieser Tempelanlage ihre neue Heimat fand. Der Ort wurde verehrt, und die Menschen reisten aus dem ganzen Land herbei, um hier zu beten.
    Cyrille folgte den Wartenden und kam allmählich wieder zur Ruhe. Was die Menschen hier suchten, ging weit über die irdischen Gefühle und kleinen Sorgen hinaus. Hier wurde einem klar, dass man sein Schicksal nicht erdulden, sondern akzeptieren sollte, dass Leid und Freude die beiden Facetten ein und derselben Sache sind. Cyrille wurde bewusst, dass sie diese Wahrheit nie so deutlich gespürt hatte wie in diesem Augenblick. Ihre Finger strichen über die schwere Tür mit den Perlmutt-Einlagen, die zu dem majestätischen Saal führten. Sie folgte den Menschen. Mitten im Raum saß auf einem elf Meter hohen Thron der Buddha, gekrönt von drei sich überlappenden vergoldeten Baldachinen. Die Besucher vor Cyrille knieten nieder, sie tat es ihnen gleich.
    Ja, genau das war es. Das Unglück war nur eine Komponente des Lebens. Ebenso wie die Freude war es vergänglich und machte anderen Ereignissen und Gefühlen Platz. Die Wände waren mit Legenden und Erzählungen aus dem Leben des Siddharta bemalt. Cyrille rief sich die Geschichte in Erinnerung. Der junge Mönch hatte sich auf der Suche nach dem Glück mit der Welt und den verschiedenen Glaubensformen auseinandergesetzt. Und schließlich hatte er es bei einem alten Fährmann entdeckt. Er hatte die Weisheit in sich selbst gefunden, im Strom des Wassers, dem Symbol der Unbeständigkeit.
    Die Unbeständigkeit.
    Dieses Wort hatte heute einen besonderen Beigeschmack.
    Seit sie die klinische Psychiatrie aufgegeben hatte, um sich nur noch leichten Neurosen zu widmen, hatte sie geglaubt, ihr Leben sei gleichbleibend bequem und einfach. Ein aufstrebender Pfad ohne Hindernisse.
    Aber nein, so konnte es nicht sein, weil sich die Dinge ständig veränderten. Sie hätte eine unheilbare Krankheit bekommen können, aber sie hatte Gedächtnisprobleme und war – vielleicht – zu unkontrollierbarer Gewalttätigkeit fähig. Schlimmer noch, offenbar hatte ihr zweites Ich vor zehn Jahren an unmenschlichen Versuchen teilgenommen. Diese Frau war sich der Tragweite ihrer Handlungen nicht bewusst gewesen und hatte zumindest einen Patienten in eine Psychose getrieben. Wie hatte sie ihren ethischen Prinzipien derart zuwiderhandeln können? Was hatte sie dazu angetrieben? Hatte man sie gezwungen oder bedroht? Hatte Benoît sie unter Druck gesetzt? Wie die anderen Pilger betrachtete sie den Buddha. Ist es möglich, dass es jemand anderen in mir gibt, eine skrupellose Person? Cyrille fragte sich, worin ihr Glück bestehen mochte. In Ruhe, Arbeit, Benoîts Zuneigung. Sie war verwundert, nur Antworten zu finden, die sie nicht wirklich zufriedenstellten.
    Ein Nadelstich fuhr ihr ins Herz. Und plötzlich begriff sie, dass ihr die Wärme eines wahren Familienlebens fehlte. Sie hätte gerne Kinder gehabt, die ihr wichtig wären und jetzt, in diesem Moment, irgendwo auf ihren Anruf warteten. Sie fühlte sich furchtbar allein.
    »Lily …«
    Sie zuckte zusammen. Er war neben ihr, direkt neben ihr. Sie erstarrte, ihr Herzschlag setzte kurz aus.
    »Was tun Sie hier?«, flüsterte sie und senkte die Augen.
    »Ich will mit dir

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