Begraben
sprechen«, antwortete er im selben Ton.
»Warum?«
»Ich will dich etwas fragen.«
Cyrille sah nach rechts, dann nach links. Auszuweichen war nicht möglich, und wozu auch? Seit ihrem letzten Gespräch war so viel passiert. Sie hatte Angst, sagte sich dann aber, sie würde ihn anhören, und dann würde er verschwinden.
»Lassen Sie uns nach draußen gehen«, erwiderte sie so bestimmt wie möglich.
Sie verließen, ohne dem Buddha den Rücken zu kehren, den Raum. Ist er bewaffnet? Was hat er vor? Als sie draußen waren, packte Julien Daumas sie fest beim Arm.
»Es dauert nicht lange. Kommst du mit einen Kaffee trinken?«
Er stellte diese Frage mit überraschender Höflichkeit, die der Härte seines Griffs widersprach, und bedachte sie mit einem charmanten Lächeln.
»Gut«, meinte Cyrille mit einem Seitenblick.
Er trug Jeans und ein blaues Hemd über einem weißen T-Shirt und wie immer seine Fototasche über der Schulter. Er setzte seine Ray-Ban-Sonnenbrille auf. Wo war der depressive und unglückliche junge Mann geblieben, dem sie vor kurzem im Centre Dulac begegnet war? Mit dem eigenartigen Gefühl, ein Geheimnis zu teilen, liefen sie die vielen Stufen des Tempels hinab.
»Wohin wollen Sie gehen?«, fragte Cyrille leise.
»Gegenüber vom Haupteingang gibt es mehrere Cafés.«
Sie überquerten den großen Platz, gingen vorbei an der thailändischen Massageschule und dem Königspalast. Cyrille befreite sich vorsichtig aus seinem Griff.
»Ich laufe nicht weg.«
Schweigend und ohne sich anzusehen, setzten sie ihren Weg fort. Julien war einen Kopf größer als sie. Er schien eher ruhig, aber vielleicht täuschte sie sich auch. Cyrille kaute an ihrem Daumennagel. Unentschlossenheit, Schuldgefühle, Zorn und Angst um ihre eigene Sicherheit, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wollte ihn schnell loswerden, aber er stellte ja vielleicht auch eine Gefahr für andere dar. Konnte sie ihn reinen Gewissens einfach so verschwinden lassen? Sollte sie ihn anzeigen? Doch mit welcher Begründung?
Sie wunderte sich, dass sie nicht früher an eine solche Begegnung und an diese Fragen gedacht hatte. Sie hatte in der Furcht gelebt, ihn plötzlich auftauchen zu sehen, aber nicht bedacht, wie sie dann reagieren sollte. Obgleich sie innerlich wie erfroren war, schwitzte sie unter ihrer Bluse. Ohne einen Blick zu wechseln, erreichten sie das Wachhäuschen am Eingang. Eine Gruppe von Japanern ahmte die Haltungen der Buddhastatuen nach und ließ sich dabei fotografieren, andere Touristen posierten vor den uniformierten Wachen. Cyrille fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Wo war ihre Fähigkeit geblieben, Situationen gedanklich vorwegzunehmen, um sich nicht von ihren Patienten überraschen zu lassen? Es war, als verweigere ihr Gehirn die Arbeit, die Bereitschaft, Hypothesen aufzustellen. Sie war dabei, sich von den Ereignissen überrollen zu lassen. Das war schlimm.
Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, das Kinn mit dem Dreitagebart stolz erhoben, war Julien nicht nur schön, sondern er erweckte darüber hinaus den trügerischen Anschein eines gesunden und selbstsicheren jungen Mannes. Er sagte nichts. Er schien nicht das Bedürfnis zu haben, zu sprechen. Zum ersten Mal dachte sich Cyrille, dass seine Präsenz etwas Männliches hatte, das ihr bei ihren früheren Begegnungen entgangen war. An der großen Straße vor dem Palast hielt er sie mit einer beschützenden Geste am Arm zurück. Als die Ampel auf Grün sprang, führte er sie auf die andere Seite. Cyrille bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Sie musste so gut wie möglich die Rolle der Therapeutin spielen, das war ihre einzige Chance, Distanz zu wahren.
In der Wat Bar drängten sich die Touristen im Schutz der gelben Markise. Julien wandte sich an die junge Bedienung, die ein Dutzend Bierflaschen auf einem Tablett balancierte. Sie lächelte, nahm die Bestellung auf und wies ihnen einen kleinen Tisch am Straßenrand zu. Cyrille setzte sich, hielt ihre Handtasche fest umklammert und fragte sich erneut, wo der verstörte junge Mann geblieben war, der in ihre Sprechstunde gekommen war – und was aus ihrer eigenen Selbstsicherheit als Leiterin des Centre Dulac geworden war. Um nicht ganz die Kontrolle über den Verlauf der Ereignisse zu verlieren, wollte sie das Gespräch beginnen, wusste aber nicht, wie sie anfangen sollte. Julien beobachtete sie, ohne ein Wort zu sagen. Das Schweigen schien ihn nicht zu stören. Cyrille dagegen machte es
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