Begraben
Rückenlehne gleiten. Unter dem knappen spitzenbesetzten blauen Jersey-Top blitzte ein Stückchen Haut hervor. Der Barkeeper war am Boden zerstört. Er brachte den beiden das Gewünschte, ohne sie anzusehen, und entfernte sich gleich wieder. Er wollte auf keinen Fall miterleben müssen, wie seine Illusionen sich in Luft auflösten!
Marie-Jeanne nahm ihr Bierglas und prostete Julien zu.
»Auf dein Wohl!«
Sie stießen an.
»Bleibst du länger in Paris?«, erkundigte sie sich und sah ihn mit ihren blauen Augen eindringlich an.
»Weiß noch nicht.«
Juliens Stimme war ziemlich tief. Er trank sein Bier in kleinen Schlucken und musterte dabei die übrigen Gäste. Nicht sehr gesprächig, der Typ. Doch Marie-Jeanne war nicht zu bremsen, wenn nötig, konnte sie die Unterhaltung auch allein bestreiten. Sie war entschlossen, nicht locker zu lassen. Das hier war das prächtigste männliche Exemplar, das ihr ins Netz gegangen war, seit ihre große Liebe Marco sie vor drei Jahren verlassen hatte.
»Also, ich bin ganz schön rumgekommen, hauptsächlich in Spanien, Dänemark und Belgien. Ich würde auch gern mal nach Panama. Hier werde ich bestimmt nicht mein Leben lang bleiben, aber momentan gefällt es mir.«
»Deine Arbeit auch?«
»Absolut. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, dass ein Bürojob nicht mein Ding ist. Doch eigentlich ist es cool. Die Leute sind nett.«
Juliens Aufmerksamkeit war nun wieder auf sie gerichtet.
»Wie lange arbeitest du eigentlich schon für deine Tante?«
»Zwei Jahre. Vorher habe ich mal hier, mal da als Bedienung gejobbt, ich hab’s auch mal als Straßenhändlerin probiert und Schmuck verkauft. Cyrille hat mir echt ’ne Chance gegeben.«
Marie-Jeanne lächelte ihn über ihr Glas hinweg an. Im Internetforum Meetic war ihr Pseudonym »Irrlicht«. Sie hatte dort in einem Jahr mit mehr als hundert Männern gechattet, sich mit etwa zwanzig getroffen und mit etwa zehn davon geschlafen. Sie bevorzugte keinen speziellen Typ, er sollte nur nicht zu alt und eher gut aussehend sein. Wichtig war ihr vor allem, wie sie schrieben, wie sie sich ausdrückten. Ein bisschen originell sollten sie allerdings auch sein.
Julien war seit Monaten der Erste, den sie nicht im Netz aufgegabelt hatte. Sie hatte die Warnungen ihrer Tante in den Wind geschlagen, die war einfach zu altmodisch und der Typ viel zu attraktiv. Das einzige Problem: Er war offensichtlicht nicht sehr gesprächig. Anders als im Netz, wo man etwas von sich preisgeben musste.
Marie-Jeanne schwieg nun ebenfalls und nutzte die Gelegenheit, um ihre Beute zu begutachten. Ihr fiel auf, dass seine Haut mit Sommersprossen übersät war, sogar die vollen Lippen. Sie bewunderte die gerade Nase, die langen Wimpern, seine starken und muskulösen Hände, die hervortretenden Venen auf seinen Unterarmen. Sie speicherte sämtliche Details, um sie an ihre Freundinnen weiterzugeben. Am liebsten hätte sie ihn mit ihrem Fotohandy »abgeschossen«, doch sie traute sich nicht.
»Deine Tante ist cool«, meinte er schließlich.
»Cool? Nein, überhaupt nicht! Du kannst dir nicht vorstellen, wie verklemmt die ist … doch sie hat ein großes Herz und ist bienenfleißig.«
Sie verschlang ihn noch immer mit ihren Blicken, als sie sich zu ihm hinüberbeugte.
»Und, was machen deine Probleme? Geht’s dir besser?«
»Weiß nicht.«
Marie-Jeanne zog einen Schmollmund und lachte.
»Wirst sehen, das wird schon wieder. Sie wird in null Komma nichts« – sie schnippte mit den Fingern – »dafür sorgen, dass sich deine Albträume in Luft auflösen. Cyrille ist wirklich eine Top-Ärztin.«
Sie trank einen Schluck Bier und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Was ist für dich wahres Glück?«, wisperte sie.
Luigi kehrte den beiden den Rücken zu und polierte energisch die Espressomaschine. Innerlich kochte er. Der Kerl verhieß nichts Gutes. Er wirkte hartherzig, eiskalt. War Marie-Jeanne blind oder was?
»Glück … hmm … in der Morgendämmerung die Natur fotografieren … darauf warten, bis die Welle auf dem line-up ist.«
»Line-up?«
Er stützte die Ellenbogen auf den Tresen und starrte in die Ferne.
»Der Punkt hinter der brechenden Welle.«
»Der Moment, wo alle Surfer darauf warten, dass die nächste Welle sie mitnimmt.«
»Genau.«
Marie-Jeanne spürte, wie sie dahinschmolz.
»Das muss der … Wahnsinn sein!«
Julien sah sie regungslos an.
»Wahnsinn, verrückt, ohnegleichen.«
Zwei Stunden später betrachtete Julien in
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