Begraben
der Avenue Bosquet die altehrwürdige Fassade eines Haussmannschen Gebäudes und pfiff durch die Zähne.
»Und hier wohnst du?«
»Yep, ich wohne direkt über meinem Onkel und meiner Tante in einem kleinen Zimmerchen. Sie haben es mir überlassen, solange ich in der Klinik arbeite.«
»Kein sehr belebtes Viertel.«
Marie-Jeanne rieb sich die Arme, sie fröstelte.
»Nein, das ist klar. Aber so eine Gelegenheit konnte ich mir doch nicht entgehen lassen. Außerdem lässt mich Cyrille die Waschmaschine mitbenutzen, und ich darf mich aus dem Kühlschrank bedienen. Willst du mit hochkommen?«
Julien schob die Hände in die Taschen seiner Jeans.
»Ich will auf keinen Fall deiner Tante über den Weg laufen.«
»Das kann uns doch egal sein!«, meinte Marie-Jeanne trotzig. »Ich benutze die Hintertür und sie den Haupteingang. Ich bin ihnen noch nie im Hausflur begegnet. Und außerdem können wir die Verbindungstür zur Treppe abschließen, wenn du willst. Es besteht kein Grund zur Sorge. Sie wird nie erfahren, dass du hier gewesen bist.«
Der junge Mann warf ihr einen nervösen Blick zu.
»Krieg ich bei dir ’nen Kaffee?«
11
8. Oktober, morgens
Der Besprechungsraum der Klinik war eher modern eingerichtet, ovaler Tisch aus hellem Holz, Ledersessel, an der Wand ein Plasmabildschirm und eine Vorrichtung für Videokonferenzen. Es roch nach Bienenwachs und frischem Kaffee. Letzteres war Cyrille zu verdanken, die außerdem noch Minibrioches und Vollkornbrot bestellt hatte. Alles selbstverständlich Bio, das war ihr Prinzip.
Die fünf Ärzte – Panis, Mercier, Frigerole, Entmann und Blake – hatten sich zu einer Besprechung um den Tisch versammelt, was mindestens zweimal pro Woche geschah, um alle über den Klinikbetrieb auf dem Laufenden zu halten. Und am späten Nachmittag sollte der Philosoph André Lecomte für die geladene Presse und ein ausgewähltes Publikum seinen Vortrag zum Thema Glück halten.
Das gesamte Erdgeschoss war in Aufruhr. Der Mobiliarverleih hatte bereits die Stühle geliefert, die an den Wänden gestapelt standen und nur noch aufgestellt werden mussten. Weiß gedeckte Tische warteten darauf, dass der Party-Service das Buffet lieferte. Cyrille Blake war gestresst, hörte aber konzentriert zu, als ihr Kollege Thierry Panis einen Neuzugang vorstellte.
»Jean-Luc Martin, neununddreißig Jahre, Patient mit Zwangsstörung«, erläuterte er. »Ein klassischer Fall von Waschzwang. Ich habe bei ihm mit Ericksonscher Hypnotheraphie begonnen, doch er hat darauf nicht sehr gut angesprochen, und auch die Umkonditionierung funktioniert nicht. Hat jemand vielleicht einen Vorschlag?«
»Haben Sie die letzten Arbeiten von Jeffrey Schwartz gelesen?«, erkundigte sich Marc Frigerole, Spezialist für Verhaltenstherapie.
Panis räusperte sich.
»Die Letzten nicht, nein …«
Cyrille zeichnete kleine Quadrate in die Ecke ihres Notizheftes, während sie ihrem Kollegen aufmerksam lauschte.
»Schwartz hat eine neue Theorie zu Zwangsstörungen entwickelt. Er fand heraus, dass das Gehirn eines Menschen mit diesen Symptomen Besonderheiten aufweist. Im Bereich des Cingulums, des orbitofrontalen Cortex, und im Nucleus caudatus ist der Energieumsatz deutlich erhöht. Daraus schloss er, dass man das Gehirn umpolen muss, wenn man diesen Teufelskreis durchbrechen will.«
»Wie?«, fragten zwei Kollegen wie aus einem Munde.
»An die Stelle des zwanghaften Verhaltens muss ein anderes treten, bis das Gehirn schließlich den zweiten Weg auf Kosten des ersten Weges favorisiert.«
»Durch Übungen, die ständig wiederholt werden?«, erkundigte sich Mercier.
»In der Tat. Jedes Mal, wenn der Zwang übermächtig wird, muss der Patient eine ihm angenehme Handlung ausführen, die Dopamin freisetzt und den Belohnungskreislauf aktiviert. Auf Dauer wird das Gehirn den angenehmen Weg vorziehen. Und die neuronale Verbindung, die der Zwangsstörung zugrunde liegt, wird abgeschwächt.«
»Das ist hervorragend«, meinte Cyrille.
»Ja, das finde ich auch. Ich habe gerade bei einer Patientin mit dieser Behandlungsmethode begonnen. Panis, Sie könnten bei der nächsten Sitzung zugegen sein. Was halten Sie davon?«
Panis nickte zustimmend. Cyrille erklärte:
»Das würde mich auch interessieren.«
Ihre Stimmung war bestens, sie hatte sehr gut geschlafen. Der Abend mit Benoît war ein voller Erfolg gewesen, und ihre Beziehung würde in den nächsten Wochen ausgeglichen sein. Sie sah auf die Uhr.
»Bevor wir die Sitzung
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