Begraben
motiviert war, wieder gesund zu werden. Der sich vertrauensvoll auf eine neue, in Frankreich bisher unbekannte Behandlungsmethode eingelassen und am Vortag in ihrem Sprechzimmer verkündet hatte: »Ich bin sicher, es wird funktionieren.« Wenn man all das betrachtete, war sein Fernbleiben unverständlich, ja sogar besorgniserregend. Natürlich konnten Patienten ihre Meinung ändern und sich entschließen, allein mit ihrem Problem fertig zu werden. Doch bei diesem Mann war das sehr unwahrscheinlich.
Sie trank ihren heißen Tee. Sie hatte irgendetwas übersehen, weil sie zu sehr mit ihren angeblichen Gedächtnisproblemen beschäftigt gewesen war, dessen war sie sich sicher. Die Angst vor einer möglichen Fehldiagnose beunruhigte sie. Als sie wieder an ihren Schreibtisch trat, bemerkte sie unter ihrer Schreibunterlage ein Kuvert, das an »Dr. Blake« adressiert war.
*
André Lecomte war ein großer, distinguierter Mann in den Sechzigern, mit weißem Haar, markanten Zügen und wachem Blick. Er trug einen eleganten grauen Anzug mit einer blasslila Fliege um seinen mageren Hals. Sein Vortrag war im vollbesetzten Saal mit großem Beifall aufgenommen worden. Clotilde, leicht enthemmt durch die zwei Gläser Champagner, die sie getrunken hatte, drängte sich zu dem umlagerten Philosophen vor.
»Monsieur«, sagte sie, »in der Schule hatte ich mit Philosophie nichts am Hut, aber bei Ihnen, bravo, habe ich jedes Wort verstanden. Stoizismus, Aristoteles … Phantastisch. Herzlichen Dank.«
André Lecomte verneigte sich vor der Schwesternhelferin und konzentrierte sich dann auf einen jungen Journalisten, der ihm eine Frage zu stellen versuchte.
Cyrille bahnte sich einen Weg zu ihm.
»Ich sehe, man hat Ihnen schon etwas zu trinken gebracht, wunderbar. André, Ihr Vortrag war sehr klar und einleuchtend. Eine Fülle an Informationen, aber dennoch für alle verständlich. Genau das, was wir uns erhofft hatten.«
»Oh, meine Liebe, es ist immer eine Freude, hier sein zu dürfen.«
Der Journalist unterbrach ihn:
»Lässt sich die Philosophie des Glücks, von der Sie sprechen, und wie sie hier im Zentrum praktiziert wird, auch mittels der Chemie oder der Medizin bewerkstelligen?«
Der Philosoph ließ sich mit der Antwort Zeit. Da er bereits anderthalb Stunden gesprochen hatte und erschöpft war, versuchte er, die Frage knapp zu beantworten.
»Es hängt davon ab, von welchem Glück die Rede ist. Die Medikamente sind hervorragende Hilfsmittel bei allen extrem schweren Fällen wie bei Depressionen. Wie sagte Freud? Sie helfen Ihnen, aus einem ›schrecklichen Übel‹ ein ›erträgliches Übel‹ zu machen. Doch Vorsicht ist geboten: Müssen wir denn gleich bei jedem Problemchen zur chemischen Keule greifen?«
Der Journalist notierte rasch und sorgfältig die Antwort. Er wollte ihm noch eine Frage stellen, doch Lecomte hatte sich bereits Cyrille zugewandt. Nachdem sie sich angeregt unterhalten hatten, ging Cyrille Blake zum Buffet hinüber, nahm sich ein wenig Gebäck und sah unauffällig auf ihr Handy. Es war inzwischen fast achtzehn Uhr, und noch immer war es Marie-Jeanne nicht gelungen, Julien Daumas zu erreichen.
Sie musste an die Nachricht denken, die er ihr hinterlassen hatte, und atmete tief durch. Zwei Stunden früher hätte sie sich für verrückt erklärt. Doch nun sagte ihr der Instinkt, dass sie möglicherweise für eine Tragödie verantwortlich wäre, wenn sie nichts unternahm. Vielleicht war das Ganze nur ein Bluff, vielleicht aber auch nicht. Benoît erwartete sie um neunzehn Uhr dreißig am Quai Branly, sie durfte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihr blieb also genau eine Stunde. Sie sah erneut auf ihr Handy und ging.
12
Cyrille blieb eine Weile in ihrem Mini sitzen und beobachtete das Haus Nummer 21 in der Avenue Gambetta. Die Hofeinfahrt war mit einem Code gesichert. Verdammt noch mal! Sie schlug auf das Lenkrad. Daran hätte ich auch vorher denken können! Wie albern, durch ganz Paris zu fahren, wenn man den Türcode nicht kennt … Sie zog den flachen Schlüssel aus der Tasche ihres Trenchcoats. Womöglich ist das nicht mal der richtige. Was habe ich bloß hier zu suchen? … Doch im Grunde wusste Cyrille genau, was es war. Sie war Julien Daumas’ Ärztin, und es ging ihm offenbar schlecht. Dass er auf die wiederholten Anrufe nicht reagiert hatte, das hatte sie von Stunde zu Stunde mehr beunruhigt, und dann seine Nachricht: »Ich gehe nicht wieder in die Psychiatrie, lieber sterbe ich. J.«
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