Begraben
dem Alltag, Fernweh, ungestüme Natur. Sie konnte fast das Salz auf ihren Lippen schmecken. Er und sie, allein an einem von den Elementen umtosten Strand …
Seufzend sah sie auf ihr Handy – keine Nachricht –, schloss die Fotogalerie und surfte auf anderen Internetsites. Nur die ersten schienen interessant zu sein. Doch plötzlich wurde ihr Blick von einem Titel angezogen. Marie-Jeanne klickte auf die Adresse und fand sich in einem Amateur-Blog über skurrile Meldungen aus der Rubrik »Vermischtes« wieder. Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen ungläubig.
In diesem Moment steckte Cyrille den Kopf durch die Tür.
»Hast du schon bei ihm angerufen?«
»Nein, noch nicht. Mache ich sofort.«
Marie-Jeanne druckte sich den Artikel aus, und drückte die Wahlwiederholung.
Der Anrufbeantworter teilte ihr mit, dass sie eine Nachricht hinterlassen könne.
»Guten Morgen, hier ist die Klinik Dulac. Sie haben einen Termin bei Doktor Blake. Bitte setzen Sie sich schnellstmöglich mit uns in Verbindung«, verkündete Marie-Jeanne, um einen neutralen Tonfall bemüht.
Sie legte auf, nahm das Blatt aus dem Drucker und überflog rasch den Artikel aus dem Provençal vom 28. Juni 1991. Ihr Magen schnürte sich zusammen.
Einen Moment zögerte sie, doch dann faltete sie die Seite und schob sie in ihre Tasche. Sie dachte kurz nach und wählte anschließend erneut die Nummer, aber diesmal über ihr privates Handy.
»Julien, hier ist Marie-Jeanne. Der Abend gestern war toll. Wir können ja mal ins Kino gehen. Ruf mich an. Bis bald. Ciao.«
Sie legte auf, und im selben Moment bedauerte sie ihren Anruf, der all ihren Regeln widersprach. Sie kaute auf den Nägeln. Toller Abend … Ja, wenn man so wollte. Julien war mit nach oben in ihr sieben Quadratmeter großes Zimmer gekommen, das Platz für ein schmales Bett und einen Klapptisch bot, außerdem gab es ein Waschbecken, einen kleinen Kühlschrank, eine Mikrowelle und eine elektrische Kochplatte. Das Zimmer war zwar klein, aber ordentlich aufgeräumt und hell, man fühlte sich sofort wohl.
In wesentlich entspannterer Atmosphäre als in der Bar hatten sie sich einen Becher Kaffee geteilt. Um die Stimmung etwas anzuheizen, hatte Marie-Jeanne eine CD von James Blunt eingelegt. Als Annie erklang, schmolz sie dahin. Es funktionierte: Julien hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht und sogar ein bisschen von sich erzählt, zumindest von seinem Lieblingssänger Jack Johnson, einem ehemaligen Profi-Surfer, der nun als Singer-Songwriter sein Geld verdiente. Marie-Jeanne hatte das Fenster aufgemacht und einen Joint angezündet, den sie gemeinsam schweigend rauchten. Und dann hatte sie sich ihm genähert, um ihn zu küssen. Er ließ es geschehen, hatte ihr durch die Kleidung hindurch ein wenig die Brüste gestreichelt und war dann aufgestanden. »Tut mir leid«, hatte er gesagt. »Ich muss gehen, ich bin total erledigt und muss morgen früh raus.«
Es war nicht das erste Mal, dass ein Annäherungsversuch fehlschlug. Doch meistens war sie diejenige, die nicht wollte, weil der Typ einen Geruch an sich hatte, den sie nicht leiden konnte, weil sie nicht in der richtigen Stimmung war, um »es« zu machen, oder weil sich ihr Verstand weigerte, sich auf den Mann zu konzentrieren. Doch jetzt war er derjenige, der sie abwies. Sie hatte die Sache nicht mehr unter Kontrolle, und das machte sie nervös.
Cyrille Blake erschien zum dritten Mal in der Türöffnung.
»Hat er sich noch immer nicht gemeldet?«
»Nein, er geht nicht ran, ich habe eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Das ist ärgerlich.«
»Nun, es ist schließlich nicht das erste Mal, dass uns ein Patient versetzt …«
Cyrille biss sich auf die Unterlippe.
»Gut, gib mir Bescheid, wenn er sich meldet, und stell ihn durch, auch wenn ich gerade in einer Behandlung bin.«
»Okay.«
Marie-Jeanne zog den Artikel aus ihrer Tasche und las ihn noch einmal. Sie war unentschlossen. Sollte sie Cyrille davon erzählen? Irgendetwas hielt sie zurück. Vermutlich wollte sie mehr als ihre Tante über Julien wissen.
Cyrille Blake kochte sich grünen Tee. Genug Kaffee für heute.
Auf ihrem Schreibtisch lag das offene Krankenblatt von Julien Daumas, sodass die Kurven seines Schlafprofils zu sehen waren. Ihre Sorge um diesen Patienten war eher intuitiv als wissenschaftlich begründet. Die vorliegenden Daten zeigten ihr einen Menschen in Not, der freiwillig zu ihr gekommen war und sie um Hilfe gebeten hatte, also
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