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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Er musste geahnt haben, dass sie vorhatte, ihn einzuweisen. Vielleicht hatte er eine Dummheit begangen. Es war besser, umsonst als zu spät zu kommen!
    Wen hätte sie schicken sollen? Die Polizei? Um ihn vollkommen zu verschrecken? Und unter welchem Vorwand? Als sie die Autotür zuschlug, kam eine Frau mit einem Kinderwagen an ihr vorbei, dessen Korb mit Paketen beladen war. Mit rotem Kopf und erschöpft blieb sie vor der Nummer 21 stehen. Cyrille beschleunigte den Schritt. Das war ihre Chance. Die junge Frau gab den Code ein, und Cyrille bot an, ihr zu helfen. Sie hielt ihr die schwere Tür auf, während die Frau sich mit ihrem Kinderwagen abmühte. Sie traten beide unter den alten Türbogen. Der Innenhof war ungepflegt, zwischen den Pflastersteinen wuchs Unkraut, in einer Ecke lag ein vergessenes rostiges Kinderfahrrad. Man hatte die Wahl zwischen Aufgang A und B.
    »Entschuldigen Sie, Madame«, sagte Cyrille, »kennen Sie zufällig jemanden namens Julien Daumas? Er wohnt hier, aber ich weiß nicht, auf welcher Seite.«
    »Den Mann mit den Katzen?«
    Cyrille war verwirrt.
    »Hm … vielleicht … ich … ein großer Blonder, sieht aus wie ein Surfer, die Haare bis da.«
    Sie zeigte auf ihr Kinn.
    »Ja, ja, das ist der Mann mit den Katzen.«
    Cyrille runzelte die Stirn.
    »Er hat Katzen?«
    »Er hat einen Verein gegründet, der sich um die verwilderten Katzen hier im Viertel Père-Lachaise kümmert. Er pflegt sie und versucht dann, sie unterzubringen.«
    »Ach, das wusste ich nicht.«
    »Er wohnt in Haus A. Oberster Stock. Was wollen Sie von ihm?«
    »Ich … ich bin Ärztin.«
    »Ach ja? Das ist das erste Mal, dass er Besuch bekommt … Guten Abend.«
    »Guten Abend.«
    Der Mann mit den Katzen … Cyrille betrat das Haus A auf der rechten Seite des Hofs. Der Putz war stellenweise abgebröckelt, und eine schmale, steile Wendeltreppe schraubte sich in schier unendliche Höhen. Sie verzog das Gesicht und seufzte. Na, dann mal los!
    Sie erreichte die erste Etage, doch als sie die Stufen zur zweiten hinaufstieg, war ihr unbehaglich zumute. Sie hatte hier nichts verloren. Was war bloß in sie gefahren? Vielleicht hätte sie Marie-Jeanne bitten sollen, sie zu begleiten. Aber die war den ganzen Tag über schlecht gelaunt gewesen und hatte Lecomtes Vortrag vorzeitig verlassen, ohne sich zu verabschieden. Sei doch ehrlich, Cyrille, warum bist du wirklich hier, während dich dein Mann in einer halben Stunde im Abendkleid am Quai Branly erwartet?
    Sie rang nach Luft und zwang sich, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Aus beruflichem Pflichtbewusstsein? So ein Quatsch! Kein Psychiater würde in einer solchen Situation einen Patienten persönlich aufsuchen, das ist gegen alle Regeln. Und kein Psychiater hätte sich bereit erklärt, diesen Schlüssel zu behalten. Ich bin im Begriff, einen Fehler zu machen. Doch eine unbekannte Kraft trieb Cyrille dazu, ihren Weg fortzusetzen. Ich bin hierhergekommen, weil ich befürchte, mich geirrt zu haben … Von dieser Erkenntnis beeindruckt, blieb sie kurz stehen und nahm dann die letzte Treppe in Angriff. Das war es, sie hatte Angst. Insgeheim fürchtete sie, erneut einen Aussetzer gehabt und den entscheidenden Moment der Behandlung verpasst zu haben, und auch ihren Patienten unbeaufsichtigt zu lassen, obwohl er eine Gefahr für sich selbst darstellen könnte.
    Sie hatte Julien Daumas insgesamt dreimal gesehen. Vielleicht hatte er ihr etwas Wichtiges anvertraut, das sie vergessen hatte? So wie sie ihren Vater beim Arzt und das Essen mit dem Pharmaboss vergessen hatte. Sie fürchtete, den ersten schweren Fehler ihrer Laufbahn begangen zu haben. Ein Stoßgebet, um sich Mut zu machen. O Gott, hoffentlich täusche ich mich … Sie beugte sich über das Treppengeländer und blickte nach oben, eine weitere Etage im Dämmerlicht. Totenstille. Ganz so, als hätte das Gebäude aufgehört zu atmen. Ihr Herz schlug schnell. Sie stellte sich das Schlimmste vor. Was würde sie sehen? Einen baumelnden Körper? Blut? Sie stellte sich alles Mögliche vor. Reiß dich zusammen und bleib so professionell wie möglich. Doch im Grunde wusste Cyrille, dass sie die beruflichen Grenzen längst überschritten hatte.
    Im sechsten Stock war kein Irrtum möglich, denn es gab nur eine Tür, die durch ein Dachfenster schwach erhellt wurde. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte das unangenehme Gefühl, von einer Watteschicht umhüllt zu sein. Cyrille klopfte und lauschte gespannt. Nichts. Kein

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