Begraben
Verstand weigerte sich, zu begreifen, ihr Blick schweifte ab und bemerkte ein Duschgel Fraîcheur intense und eine Tube Feuchtigkeitscreme für empfindliche Haut. Cyrille stand eine Weile fassungslos da, dann ging sie zur Dusche und zog den Vorhang beiseite. Herrgott noch mal! Der Körper eines nicht mehr zu erkennenden Tieres mit dunklem Fell lag zusammengekrümmt in der Wanne, eine getrocknete Blutspur führte zum Abfluss. Cyrille hielt den Wohnungsschlüssel so fest umklammert, dass sie sich die Hand daran verletzte. Langsam trat sie zurück, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihr Blick fiel auf einen großen verhängten Rahmen, der an einem Stuhl links neben dem Waschbecken lehnte. Auf das schwarze Tuch war ein Briefumschlag geheftet. Ihre innere Stimme schrie erneut: Geh, verschwinde von hier! Doch sie hörte nichts mehr und trat näher. »Cyrille« stand in Schönschrift auf dem Kuvert. Mit zitternden Händen nahm sie es ab, das Blut pochte in ihren Schläfen. Sie faltete das Blatt auseinander. Vier mit Tinte und in feiner Handschrift geschriebene Sätze waren an sie gerichtet.
Damit du die Dinge endlich siehst, wie sie wirklich sind.
Danke für den Versuch, mich glücklich zu machen.
Dein anderes Ich gefällt mir besser.
Meine Lily, die einen schwermütigen Tango spielte.
Julien
Mit einer abrupten Bewegung riss Cyrille das schwarze Tuch weg, und der Boden schien sich unter ihren Füßen aufzutun. Augen, rot geädert mit blauer, gelber oder brauner Iris, Dutzende blutiger Augen starrten sie an. Sie waren ihren Besitzern ausgestochen und hier wie zu einem makaberen Rechenbrett aufgereiht worden. Sie stieß einen leisen Schrei aus und schlug die Hand vor den Mund. Das war widerwärtig, grauenvoll … Es handelte sich um die Augen von Tieren, die von einem Geistesgestörten herausgeschnitten und – vermutlich mit Silikon – haltbar gemacht worden waren. Tränen des Entsetzens rannen ihr über die Wangen. Julien Daumas war ein perverser, sadistischer Kranker, der sich hier seine kleine Folterkammer eingerichtet hatte. Sie schluchzte auf.
Sie hatte sich hereinlegen lassen wie eine blutige Anfängerin. Das Melodrama, das er ihr vorgespielt hatte, die Sache mit dem Schlüssel, alles nur, um sie zu manipulieren und hierherzuführen, weil sie »das« sehen sollte. Was wollte er ihr damit beweisen? Sie weinte, allerdings vor Wut auf sich selbst. Sie bildete sich ein, eine gute Ärztin zu sein, einfühlsam und empathiefähig, eine begabte Psychologin – dass ich nicht lache! Sie hatte nichts kommen sehen. Sie hatte die Krankheit ihres Patienten unterschätzt, sie war zu selbstsicher und anmaßend gewesen. Sie hätte bei ihren ehemaligen Kollegen von Sainte-Félicité insistieren müssen, um schnellstmöglich die Krankenakte zu erhalten. Aber sie hatte geglaubt, es handele sich um einen einfachen Fall, ein paar Albträume, die es auszuräumen galt, reine Routine. Sie war nachlässig und unfähig gewesen. In ihrer Manteltasche vibrierte das Handy. Eine SMS von ihrem Mann: »Wo steckst du? Ich bin am Quai Branly. Warte drinnen auf dich.« Sie entzifferte die Buchstaben, war aber nicht in der Lage, den Sinn der Worte zu begreifen. Um sie herum herrschte Stille. Rückwärts gehend verließ sie das Zimmer. Ein Knarren, etwas Warmes streifte ihre Beine: eine versehrte Katze, die um Zuwendung bettelte. Cyrille nahm sie hoch und presste sie fest an sich. Als sie im Treppenhaus stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann ihr Gehirn wieder zu arbeiten, so als hätte jemand auf die Play-Taste gedrückt. Sie dachte an Benoît, der auf sie wartete. Cyrille fluchte. Sie würde niemals rechtzeitig bei ihm sein.
13
In den zwölf Jahren ihres gemeinsamen Lebens hatte Benoît Blake seine Frau nie schlecht behandelt. Für ihn war Cyrille noch immer eine seiner Studentinnen, was ihn, sobald er an sie dachte, jedes Mal wieder in Erregung versetzte. Doch in diesem Moment hätte er sie umbringen können. Wo steckte sie? Mit wem? Warum hatte sie seine Nachrichten nicht beantwortet? Fast alle geladenen Gäste waren bereits in Abendkleidung im Empfangsraum des Musée du Quai de Branly versammelt. Bei diesem Galadiner sollte für die Erforschung neurodegenerativer Krankheiten gesammelt werden. Bevor die Gemälde eines zeitgenössischen Künstlers versteigert würden, würden die berühmtesten französischen Gehirnspezialisten, unter ihnen Blake, Tardieu und zwei Professoren des Instituts Pasteur, eine
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