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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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gelegt.
    Ihr eigenes Vergnügen war sekundär, sie wollte vor allem, dass er diese Nacht in guter Erinnerung behielt und Lust hatte, wiederzukommen.
    Aber Julien war wirklich nicht wie die anderen Männer. Er liebte sie langsam, sanft und zärtlich. Ihre Akrobatik interessierte ihn nur mäßig, und er erkundigte sich immer wieder, ob es schön für sie sei. Das hatte Marie-Jeanne so sehr überrascht, dass ihr mehrmals fast die Tränen gekommen wären.
    Als er sie lange liebkost hatte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, hätte sie wirklich beinahe geweint. In ihrem Inneren war etwas entstanden, das auch morgens nach dem Aufwachen noch da war. Sie legte ihre Hand auf Juliens und streichelte seine Finger. Sie war glücklich. Der junge Mann tauchte seinen Blick in den ihren. »Deine Augen sind morgens wundervoll«, sagte er zärtlich.

10   Uhr   15
    Am Schreibtisch über ihre Buchhaltung gebeugt, konnte sich Cyrille einfach nicht konzentrieren. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr quälte sie sich. Sie kaute an ihrem Stift. Julien Daumas hätte seinen Termin an diesem Vormittag um zehn Uhr gehabt, doch er war noch immer nicht erschienen und hatte sich auch nicht gemeldet. Weiß er, dass ich in seiner Wohnung war? Cyrille machte ein rotes Kreuz neben die Spalte »Untersuchungsmaterial« und schrieb: GD, was »genauer definieren« bedeutete. Ihr Buchhalter hatte wirklich gute Arbeit geleistet, sie musste fast nichts korrigieren, nur einige kleine Erklärungen hinzufügen. Morgen könnte sie den Investoren den Bericht vorlegen, ohne wesentliche Änderungen vornehmen zu müssen.
    Sie unterbrach sich erneut. Ein neurotischer Pseudologe, der Tiere verstümmelt, lockt mich in seine Wohnung, damit ich sein »Werk« entdecke, und verschwindet dann. Mit welchem Ziel? Ist er gefährlich? Für sich selbst sicher. Die Verletzung anderer konnte einer Selbstverstümmelung vorausgehen. Und sein Umfeld? Bin ich in Gefahr?
    Den Blick ins Leere gerichtet, blinzelte sie. Ich habe mich reinlegen lassen. Unsere angebliche Begegnung in Sainte-Félicité, der Schlüssel, der vorgetäuschte Hilferuf, die Inszenierung in seiner Wohnung, das widerwärtige Bild, alles war von Anfang an geplant. Ich muss die Situation wieder in den Griff bekommen, meine Gedanken ordnen und das Spiel analysieren, in das mich Julien Daumas verwickeln will. Diese Überlegung beruhigte sie. Die Angst hatte ihre analytischen Fähigkeiten offenbar nicht beeinträchtigt. Sie hätte gerne mit ihrem Mann gesprochen, aber nein! Sie nahm ihm seine Szene vom Vorabend noch übel.
    Sie griff zum Telefon, um Marie-Jeanne zu sagen, sie solle den Buchhalter des Zentrums anrufen, doch plötzlich fiel ihr wieder ein, dass die junge Frau nicht da war. Die geht mir auch langsam auf die Nerven! Sie versuchte noch einmal vergeblich, sie auf dem Handy zu erreichen. Heute Abend würde sie ein ernstes Wörtchen mit ihr reden.
    Cyrille Blake öffnete das Power-Point-Programm auf ihrem Computer. Sie klickte die zweiundzwanzig Dias an, die sie in Bangkok zeigen würde. In diesem Jahr hatte sie verschiedene Dinge gelernt. Um sein Geld zu verdienen, reichte es nicht aus, ein guter Arzt zu sein, man musste es auch publik machen. Selbst wenn Werbung in ihrem Beruf verboten war, musste sie sich auf indirekte Art präsentieren, sonst würde das Zentrum Dulac nicht überleben. Der neuropsychiatrische Kongress war das Highlight des Jahres. Von ihren Kollegen hatte sie keine Unterstützung zu erwarten, die würden ihr eher Steine in den Weg legen. Mit den Journalisten sollte sie allerdings einen guten Kontakt pflegen.
    Gegen elf Uhr dreißig – sie verfasste gerade die Bildunterschriften zu ihren Dias – vibrierte ihr iPhone. Marie-Jeanne. Na also! Sie nahm das Gespräch an.
    »Warum meldest du dich nicht?« Sie ging sofort zum Angriff über.
    »Tut mir leid, ich bin heute total groggy.«
    »Was hast du?«
    »Eine unglaubliche Migräne.«
    Cyrille verzog zweifelnd das Gesicht.
    »Nimm Paracetamol. Du kannst dir welches aus unserem Badezimmer holen, wenn du keines hast.«
    »Okay, danke. Kann ich auch Wäsche waschen?«
    »Hast du nicht gestern erst eine Maschine gemacht? Die Verbindungstür war offen.«
    »Ja, tut mir leid, aber ich habe noch Sachen zu waschen.«
    Cyrilles Finger trommelten nervös auf die hölzerne Schreibtischplatte. Sie konnte Benoîts Nichte nicht zwingen, ihr gegenüber ehrlich zu sein, aber sie spürte, dass etwas nicht stimmte.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ja, ja.

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