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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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dieser Mann stark gestört. Er hat sadistische Triebe … die ihn dazu bringen, Tiere zu verstümmeln.«
    So, nun war es raus. Sie musterte den Chefkrankenpfleger, um seine Reaktion zu sehen. Nichts. Sein Gesicht, das zuvor vor Erstaunen starr gewesen war, war jetzt hermetisch verschlossen. Ungerührt zog er an seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nase aus.
    »Nun, dieser Patient heißt Julien Daumas«, fuhr Cyrille fort. »Er war im Jahr zweitausend stationär in Sainte-Félicité. Professor Manien, den Sie ebenso gut kennen wie ich, weigert sich, mir seine Krankenakte, die ich dringend brauche, auszuhändigen. Er behauptet, sie wäre im Zentralarchiv. Nun, Sie werden verstehen, dass es meine Aufgabe ist, so viele Informationen wie möglich über diesen Patienten, der vielleicht gefährlich und auch selbst in Gefahr ist, zusammenzutragen.«
    Cyrille unterbrach ihren Monolog. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie unglaublich lächerlich diese Situation war. Was hatte sie hier zu suchen, warum bettelte sie bei einem Krankenpfleger um eine Akte, die ihr der Chefarzt am selben Morgen verweigert hatte? Wie hatte sie auch nur eine Sekunde an den Erfolg einer solchen Aktion glauben können?
    Ihr wurde klar, dass sie nur in ihrer kleinen Klinik mit den paar Angestellten die Chefin war. Sobald sie die Tür dieses privaten Zentrums hinter sich geschlossen hatte, besaß sie keine Autorität mehr. Sie rang die Hände und verfluchte sich, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Sie schämte sich. Röte stieg ihr ins Gesicht. Nino sagte nichts und beobachtete, wie ihr Unwohlsein wuchs. Er rauchte seine Zigarette bis zum Filter, dann drückte er sie in dem schmiedeeisernen Aschenbecher aus und sagte laut und deutlich:
    »Du willst dich wohl über mich lustig machen, sporca bugiarda!  …«
    Cyrilles Herz hämmerte zum Zerspringen. Auch wenn sie kein Italienisch konnte, verstand sie, dass Nino ihr nicht gerade ein Kompliment gemacht hatte. Fassungslos blinzelte sie.
    »Ich verstehe nicht …«
    Der Blick des Krankenpflegers war finster und ausdruckslos.
    »Zehn Jahre lässt du nichts von dir hören, und dann kreuzt du bei mir auf und verlangst, dass ich dir eine Krankenakte beschaffe.«
    »Ich weiß, das gehört sich nicht«, verteidigte sich Cyrille kläglich. »Aber das ist meine letzte Chance. Julien Daumas ist vermutlich gefährlich. Ich muss alle Unterlagen in der Hand haben, um ihn behandeln zu können oder stationär einzuweisen.«
    Nino legte Daumen und Zeigefinger auf die Augen und schüttelte seine schwarze Mähne.
    » Porco Dio, ist das hier die Sendung mit der versteckten Kamera oder was?« Er sah Cyrille herausfordernd an.
    »Was soll das für ein Spielchen sein?«
    Cyrille hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter ihren Füßen auftat. Sie verstand rein gar nichts.
    »Aber das ist kein Spiel, ich …«
    »Raus!«
    »Wie bitte?«
    »Raus, sage ich! Du bleibst keine Minute länger hier!«
    Mit wenigen Schritten war er an der Eingangstür. Willenlos folgte ihm Cyrille. Doch plötzlich öffnete sich die Tür von allein, und ein großer mit Einkaufstüten beladener Mann karibischer Herkunft betrat die Wohnung. Cyrille grüßte flüchtig und stieg die Stufen hinab, beseelt von dem Wunsch, sich in einem Mauseloch zu verkriechen.
    Hinter ihr tauschten Nino und sein Freund einen verblüfften Blick und sahen Cyrille nach unten laufen.
    Nino beugte sich über das Geländer.
    »Cyrille!«, rief er.
    Sie hob den Kopf.
    »Komm wieder rauf!«
    »Was?«
    »Komm wieder rauf, sage ich.«
    Sie blieb stehen.
    »Ich begreife nicht …«
    Nino hastete die Treppe hinab und fasste sie beim Arm.
    »Komm wieder mit nach oben.«
    »Aber Sie …«
    »Hast du Tony nicht erkannt?«
    »Wen?«
    Nino sah zu seinem Freund hinauf, der die Schultern zuckte und den Kopf schüttelte. In sanfterem Tonfall fuhr Nino, an Cyrille gewandt, fort:
    »Komm, ich glaube, du hast ein großes Problem.«
    Kurz darauf saß Cyrille Blake wieder auf dem Sofa und der surrealste Dialog ihres Lebens begann. Nino hatte sie mit festem Griff nach oben geführt und auf die Couch gedrückt. Völlig verwirrt hatte sie es geschehen lassen. Tony, jener Tony, den sie offenbar hätte kennen sollen, war in der Küche verschwunden. Nino hatte sich eine weitere Zigarette angezündet. Cyrille rauchte seit Jahren nicht mehr, aber in diesem Augenblick hätte sie es gerne getan, wagte jedoch nicht, um eine zu bitten. Tony kam mit einem Tablett zurück, auf dem drei Gläser mit

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