Begraben
Morgen bin ich auf alle Fälle da. Hast du heute Nacht Dienst?«
»Ja, ausnahmsweise.«
Marie-Jeannes Stimme klang fröhlich, auch wenn sie versuchte, sich zu verstellen und leidend zu wirken. Cyrille hätte wetten können, dass sie nicht allein war, dass ein Mann bei ihr war. Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Marie-Jeanne legte eilig auf.
*
Marie-Jeanne machte ein Omelett mit Speck und kochte Kaffee, während Julien nackt auf dem Bett lag. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie den Körper des jungen Mannes. Seine Muskeln waren geschmeidig, trainiert durch Surfen, Schwimmen und lange Wanderungen am Strand. So zumindest stellte sie es sich vor. Sie erschauderte vor Lust. Er war nicht nur schön, er hatte etwas Magisches. Auch wenn er schwieg, füllte er den gesamten Raum aus und brachte die Luft um sich herum zum Vibrieren. Und wenn er einen ansah, hatten seine Augen die Farbe eines tiefen Sees und die Pupillen schienen einem direkt in die Seele zu blicken … Das junge Mädchen wusste, dass er alle Frauen haben konnte, die er wollte, und das hatte er sicher auch ausgenutzt. Sie verstand nicht, warum sich ein Mann wie er für eine pummelige Rothaarige wie sie interessierte. Doch darüber würde sie sich nicht beklagen und ihn auch nicht nach den Gründen fragen. Auf diese Art hatte sie noch nie mit jemandem geschlafen. Er gab ebenso viel, wie er nahm, kam nie als Erster. Nicht wie all die anderen Typen vor ihm. Marie-Jeanne dachte, für ihn wäre sie gerne Jungfrau geblieben. Sie stellte zwei Teller auf den winzigen Klapptisch unter dem Fenster. Julien zog seine Boxershorts an und setzte sich zum Frühstück auf das Bett. Marie-Jeanne beugte sich zu ihm und küsste ihn, seine Lippen schmeckten süß. Sie hatte einen Slip und ein T-Shirt angezogen, da sie fröstelte. Sie richtete das Solarmobile so aus, dass der Schmetterling wieder zu flattern begann. Dann räusperte sie sich und fragte:
»Gehst du ins Zentrum Dulac zurück?«
Julien verspeiste gerade einen Bissen Omelett.
»Nein, das wird zu kompliziert. Hat deine Tante mit dir über mich gesprochen?«
Nein, Cyrille hatte nichts gesagt. Aber sie wusste auch nicht alles, und vielleicht konnte sie die Probleme ihres Patienten nicht ermessen. Marie-Jeanne dachte an den Zeitungsausschnitt in ihrer Tasche. Sie hätte Cyrille informieren müssen, aber sie wollte es noch ein wenig für sich behalten, obwohl sie wusste, dass das nicht sehr professionell war.
»Nein, hat sie nicht. Aber gestern war sie sehr beunruhigt, dass du nicht zu deinem Termin erschienen bist.«
Es herrschte ein kurzes Schweigen.
»Ich will nicht zurück zu ihr.«
»Warum?«
»Weil ich spüre, dass sie mich wieder in die Psychiatrie stecken will. Und das kommt nicht infrage, ich fahre sowieso bald weg.«
Marie-Jeanne spielte mit ihrer Gabel. Sie hatte plötzlich keinen Hunger mehr.
»Wie? Wohin denn?«
»Nächste Woche habe ich einen Job in Vietnam.«
»In Vietnam?«
»Eine offizielle Sache. Danach fotografiere ich die Surf Open auf Bali.«
»Wann kommst du zurück?«
»Ich will etwas in Vergessenheit geraten.«
»Du solltest zumindest zu meiner Tante gehen, und es ihr mitteilen.«
Marie-Jeanne begriff, dass dies ein Versuch war, ihn zurückzuhalten. Vielleicht würde Cyrille die richtigen Worte finden, um seine Angst zu vertreiben und ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie ging sehr geschickt mit den Patienten um, sogar mit den schlimmsten. Doch Julien schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht. Es gibt Leute, die mir Böses wollen.«
»Aber wer? Informier die Polizei!«
»Keine gute Idee.«
Er spießte die letzten Reste von seinem Omelett auf die Gabel.
»Hm, wirklich gut. Kann ich unten ein paar Sachen waschen?«
»Kein Problem. Ich ziehe mich an und komme mit.«
Julien zog Marie-Jeanne an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Bist du sicher, dass du dich schon anziehen willst?«
16
19 Uhr 30
Das war nicht die richtige Zeit, um bei den Leuten aufzukreuzen. Sie hätte vorher anrufen müssen, aber sie wollte vermeiden, dass er einfach auflegte. Auf dem Klingelschild stand in Schönschrift »Paci« geschrieben. Sie hatte im Zentrum Bescheid gegeben, dass sie für eine Stunde abwesend wäre, und Benoît erklärt, sie sei nicht zu erreichen. Der hatte sie daran erinnert, dass er heute seinen vierzehntägigen Pokerabend mit seinen Golffreunden hatte. Umso besser. So konnte sie ihre Nachforschungen in aller Ruhe durchführen, ohne sich vor irgendjemandem
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