Begraben
einem orangefarbenem Cocktail und einem grünen Strohhalm standen. Zunächst hatte Cyrille abgelehnt, auf Drängen der beiden Männer aber doch von dem hausgemachten Planters Punch gekostet. Köstlich, der Geschmack nach Ingwer und Limetten. Schließlich hatte sie ein Drittel des Glases geleert. Ein Gefühl von Wärme und Entspannung breitete sich in ihr aus. Jetzt saß sie den zwei fassungslosen Männern gegenüber.
»Also gut, Cyrille, fangen wir von vorn an. Du behauptest, Tony nicht zu kennen?«
»Nein, tut mir leid. Wie sollte ich?«
Nino wich geschickt aus.
»Und mich, Cyrille, erkennst du mich wieder?«
Irritiertes Schulterzucken, eher wegen Ninos Ton, als wegen der Frage selbst. Der Krankenpfleger sprach mit ihr wie mit einem Neuzugang in Sainte-Félicité; seine Stimme war fest und bestimmt, aber doch herzlich. Der duzt mich und redet mit mir wie mit einer Kranken, das gibt’s doch nicht!
»Ja natürlich, ich bin schließlich nicht verrückt. Sie sind der Chefkrankenpfleger von Sainte-Félicité. Deshalb bin ich ja auch hier.«
»Ist das alles?«
Cyrille presste die Lippen zusammen.
»Wie, ist das alles? Ja, Sie sind der Chefkrankenpfleger von Sainte-Félicité und einer der wenigen, die ich in guter Erinnerung behalten habe. Darum habe ich gedacht, ich könnte Sie vielleicht um einen Gefallen bitten.«
Im Moment fragte sie sich allerdings, warum sich Nino wie ein Polizist beim Verhör aufführte. Das war sehr unangenehm.
Nino stützte die Ellenbogen auf die Knie und beugte sich vor.
»Ist das wirklich alles?«
»Herrgott noch mal, ja, was wollen Sie denn von mir hören?«
Der Krankenpfleger blies die Backen auf, wechselte einen Blick mit seinem Freund, atmete dann geräuschvoll aus und schüttelte den Kopf.
»Na … toll!«
Tony schwieg. Selbst im Sitzen war er groß. Seine Züge waren fein, sein Ausdruck war ruhig und sein Körper schlank und athletisch. Er betrachtete Cyrille perplex und mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Das ist ein Witz, das kann nur ein Witz sein«, sagte er dann leise.
Cyrille hatte den unangenehmen Eindruck, die falsche Person am falschen Ort zu sein. Sie wollte nur noch verschwinden. Doch Ninos dunkle Augen hielten sie in Schach.
»Und du bist gekommen, damit ich dir die Krankenakte eines Patienten beschaffe … Stimmt das?«
Wieder dieser typisch sanfte Ton des Pflegepersonals gegenüber einem Kranken mit Wahnvorstellungen, dem man nicht widersprechen will. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und präzise zu antworten.
»Ja, die Akte von Julien Daumas, einem jungen Mann, der unter Depressionen leidet und im Jahr zweitausend stationär in Sainte-Félicité behandelt wurde und der mich jetzt im Zentrum Dulac aufgesucht hat. Ich fürchte, dass er womöglich gefährlich ist. Aber all das habe ich Ihnen schon vor einer Viertelstunde erklärt.«
»Julien Daumas, sagst du?«
»Genau … und bitte, könnten Sie aufhören, mich zu duzen?«
»Und an ihn erinnerst du dich auch nicht? Nada? «
Cyrille sah Nino nur schweigend an. Der Krankenpfleger presste die Lippen zusammen, sodass nur noch zwei schmale weiße Striche zu sehen waren. Verlegenenes Schweigen machte sich breit. Einige Minuten vergingen, und Cyrille spürte Zorn in sich aufsteigen. Schließlich sagte sie mit tonloser Stimme, die ihren Ärger verriet:
»Hören Sie, Sie sind zwar sehr nett, aber ich habe noch anderes zu tun, ich habe Nachtdienst und ein Zentrum zu leiten. Entweder haben Sie mir etwas zu sagen, dann tun Sie es bitte sofort und ohne Ausweichmanöver, oder ich gehe.«
Nino schwieg noch eine Weile. Cyrille hatte fast den Eindruck, sein Gehirn arbeiten zu sehen. Schließlich erklärte er:
»Ich weiß nicht, was in den letzten zehn Jahren mit dir geschehen ist, Cyrille, aber du hast einige wichtige Dinge vergessen, was übrigens dein Verhalten erklären könnte.«
Cyrille sackte auf dem Sofa in sich zusammen. Sie spürte, dass etwas Unglaubliches auf sie zukommen würde.
»Was, was habe ich denn vergessen?«
»Du kennst Tony, und du kennst ihn gut. Denn du, er und ich, wir waren vor zehn Jahren ein unzertrennliches Trio, das viel zusammen gefeiert hat.«
Eine Granate.
Entsichert.
Die in ihrem Kopf explodierte.
Cyrille blinzelte. Was sollte der Unsinn? Zum einen hatte sie nie viel gefeiert, und wenn sie Freunde in Sainte-Félicité gehabt hätte, würde sie sich an sie erinnern. Sie verzog skeptisch den Mund.
Nino erhob sich und ging zu dem chinesischen Sekretär, der gegenüber dem
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