Begraben
Fenster mit den Orchideen stand. Er zog die Schublade auf, die voll war mit Dokumenten, Briefen und Fotos … Tony und Cyrille beobachteten ihn. Nino suchte einige Minuten lang in den Fotos, schließlich zog er eine fleckige, zerknitterte Hülle heraus. Er kam zurück, wählte verschiedene Aufnahmen aus und breitete sie vor Cyrille aus.
»Hier, du siehst nicht gerade frisch aus, mit deinem Corona Bier in der Hand, wir haben meine Beförderung gefeiert. Dieses hier war der Tequila-Paff-Abend, an dem ich mich gefragt habe, ob Tony nicht vielleicht wieder Hetero wird. Sieh mal, wie der Kerl dir den Hintern knetet. Und das hier erst …«
Cyrille spürte, wie eine eisige Hand über ihren Rücken glitt und ihr das Herz in der Brust zusammenpresste. Ihr war plötzlich kalt, und sie bekam keine Luft mehr. Da, auf den Fotos, das war sie. Oder ihr Klon. Langes blondes Haar und auf jedem Bild eine Flasche Bier in der Hand. Sie, oder besser das junge Mädchen zwischen den beiden Freunden Nino und Tony …
»Wenn ich weitersuche, finde ich noch mehr«, versicherte Nino. »Der Vollrausch, damit du dich von dem Angriff in der Ambulanz erholst, weißt du noch? Oder den, als wir eine Professor-Manien-Puppe gebastelt und mit Nadeln hineingestochen haben …?«
Der Angriff. Ja, daran konnte sie sich erinnern. Cyrille biss sich auf die Unterlippe. Eine Puppe, die ein Abbild von Manien war … das sagte ihr vage etwas … aber alles war so konfus, so verschwommen … doch der Rest, die Feste … nein. Nino sah, wie seiner ehemaligen Freundin Tränen in die Augen stiegen.
»Soll ich weitermachen?«
Cyrille hob den Kopf. Sie saß in der Falle, doch sie hielt dagegen:
»Das sind nur Fotos. Die beweisen keine tiefe Freundschaft.«
Nino kniff die Augen zusammen. Cyrille kämpfte, wollte sich nicht überzeugen lassen.
»Gut, lass mich nachdenken.«
Er schwieg einige Sekunden.
»Ich kenne den Vornamen deiner Eltern, Louis und Francine, sie ist gestorben, als du zehn Jahre alt warst. Du bist im Norden aufgewachsen und hattest, als du klein warst, furchtbare Angst vor der Sirene der Tüllfabrik. Nach dem Tod deiner Mutter hat dich dein Vater nach Amiens ins Internat geschickt.«
Bei dem Ansturm widersprüchlicher Gefühle, dem Wunsch, zu fliehen oder auf der Stelle zu sterben, sackte Cyrille Blake immer mehr in sich zusammen. Nino atmete tief durch.
»Ich weiß auch, was du hättest machen wollen, wenn du nicht Ärztin geworden wärest.«
»Was?«, murmelte sie.
»Bandoneon-Spielerin oder Tangolehrerin.«
Cyrille hielt die Luft an. Nino setzte nach:
»Ein Mal, nur ein einziges Mal, hast du Bandoneon für uns gespielt, was du sonst nie vor Publikum getan hast. Das war 1999 am Tag nach Weihnachten, als Tony seinen Bruder bei einem Motorradunfall verloren hatte. Das Stück hieß Milonga del Ángel und war so schön und traurig, dass wir alle drei geweint haben.«
17
22 Uhr
Das Schlaflabor des Centre Dulac war verwaist, die Betten waren leer und würden erst nächste Woche wieder zum Einsatz kommen. Nur zwei der drei Zimmer im ersten Stock waren von Teilnehmern des Meseratrol-Programms belegt. Wie ferngesteuert lief Cyrille durch den in bläuliches Licht getauchten Gang. Kein Laut war zu hören, die Patienten schliefen. Sie trat ins Ärztezimmer und überprüfte die Monitore. Nichts Besonderes. Ihren Piepser in der Kitteltasche ging sie in ihr Büro. Sie knipste die Schreibtischlampe an, nahm die Krankenakten und legte sie in der Hängekartei neben ihrem Tisch ab. Dann sortierte sie die Fragebögen und stapelte sie sorgfältig aufeinander. Anschließend schüttelte sie die Kissen auf der Couch, ordnete die verstreuten Zeitschriften, griff nach dem Tuch, das die Putzfrau morgens benutzte, und begann wie besessen, unsichtbaren Staub zu entfernen. Cyrille wischte die Möbel ab, die Kaffeemaschine, die afrikanischen Statuen auf dem japanischen Regal und kletterte anschließend auf die Couch, um sich die beiden abstrakten Gemälde an der Wand vorzunehmen.
Als sie fertig war, knipste sie die Lampe wieder aus und lief zum Schlaflabor. Sie machte kein Licht, denn es war eine Vollmondnacht. In Panis’ Schreibtischschublade fand sie eine Packung Marlboro und ein Feuerzeug. Bei der Eröffnung des Zentrums hatte sie ein absolutes Rauchverbot ausgesprochen, doch sie drückte ein Auge zu, wenn Panis bisweilen gegen diese Regel verstieß. Sie nahm eine Zigarette, streifte ihre Mokassins ab, setzte sich auf die breite Fensterbank
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