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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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und öffnete das Fenster einen Spaltbreit, um frische Luft hereinzulassen.
    Die Flamme des Feuerzeugs erhellte ihr blasses Gesicht. Cyrille nahm einen tiefen Zug von der Zigarette, und ihr wurde sofort schwindelig. Sie strich sich durchs Haar, legte die Arme um die Knie und stieß den Rauch durch die Nase aus. Ohne an irgendetwas zu denken, verharrte sie eine Weile so und beobachtete die Autos unten auf der Kreuzung und die Ampel, die von Gelb auf Rot sprang und dann wieder auf Grün. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie fühlte sich am Rand eines Abgrunds, verlassen und einsamer denn je. Was hatte Nino Paci gesagt? Ah ja, sie hätte ein ernsthaftes Problem. Davon war sie mittlerweile selbst überzeugt. Sie biss sich so fest in den Daumen, dass es wehtat.
    *
    Der große amerikanische Kühlschrank hatte zwei Türen, hinter der Linken verbargen sich die Gefrierfächer. Im untersten Fach bewahrte ihr Onkel sein Lieblingseis Ben & Jerrys Cookies Dough auf. Das Licht im Inneren verlieh Marie-Jeanne ein gespenstisches Aussehen. Sie nahm einen Becher heraus. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr, und nachdem sie sich den ganzen Tag über geliebt hatten, hatten Julien und sie jetzt Lust auf etwas Süßes. Das Einzige, was sich im Minikühlschrank ihres Zimmers fand, war ein Joghurt mit null Prozent Fett. Also hatte sie sich gesagt, sie könnte ein paar Süßigkeiten bei den Blakes ausleihen, ihr Onkel würde ihr das nicht übel nehmen. Gleich morgen würde sie in den Supermarkt gehen und ihm zur Entschädigung zwei neue Becher kaufen. Sie schloss die Tür des Gefrierschranks und stellte das Eis auf dem Tisch ab. Sie hatte nur das Licht an der Abzugshaube eingeschaltet, das den Raum schwach erhellte. Nicht weil sie Angst gehabt hätte, jemanden zu stören. Sie wusste, dass Benoît erst gegen Morgen vom Pokerspielen heimkäme und Cyrille bis um sechs Uhr früh Dienst hatte. Marie-Jeanne hatte die Verbindungstür zur Treppe offen lassen. In einer hübschen Keramikschale lagen schöne Weintrauben. Sie zupfte einige ab und legte sie auf den Becher.
    »Darf ich?«
    Sie zuckte zusammen.
    Julien.
    »Mein Gott, hast du mich erschreckt!«
    Nur bekleidet mit einer Jeans, war der junge Mann die Treppe von ihrem Zimmer heruntergekommen. Er schob sich eine Weinbeere in den Mund.
    »Hast du was gefunden?«
    Marie-Jeanne zeigte stolz ihre Beute.
    »Perfekt, das ist meine Lieblingsmarke.«
    »Gehen wir wieder rauf?«
    Aber Julien war schon um den Küchentisch herum ins Wohnzimmer getreten. Er lief am Sofa entlang, und seine Hand strich liebkosend über das Leder.
    »Hier wohnt sie also …«
    In ihrem großen türkisfarbenen Herrenhemd, in dem Marie-Jeanne sich sexy fand, folgte sie ihm. Doch ihr war plötzlich unwohl bei dem Gedanken, mitten in der Nacht durch die Wohnung ihres Onkels und ihrer Tante zu spazieren. Sie war im Begriff, die Regel Nummer 1 zu übertreten, die ihre Tante aufgestellt hatte, als sie ihren Rucksack auf das kleine Bett oben im Zimmer gelegt hatte. Keine Fremden in unserer Wohnung. In deinem Zimmer kannst du machen, was du willst, aber hier unten wollen wir unsere Ruhe. Marie-Jeanne wickelte eine ihrer roten Locken um den Finger. Sie wusste, dass sie dabei war, eine Dummheit zu begehen, aber sie wollte ihrem Liebhaber nichts abschlagen.
    »Julien, wir müssen zurück nach oben.«
    Der junge Mann sah sich alles genau an, auch wenn in dem Dämmerlicht kaum etwas zu erkennen war: die afrikanischen Ziergegenstände, die Bilder, die Video- und Stereoanlage. Er betrachtete ein gerahmtes Foto, das Benoît und Cyrille vor einem Tempel in Bangkok zeigte. Cyrille lächelte auf eine abwesende und mysteriöse Art.
    »Julien, komm, lass uns gehen.«
    »Hast du nicht gesagt, dass sie nicht zurückkommen?«
    »Ja, aber ich fühle mich hier unwohl.«
    »Na gut.«
    Er schlenderte ohne Eile durch das Zimmer und kam zurück in die Küche. Plötzlich bückte er sich zu einem Schatten vor seinen Füßen.
    »Hallo, Kätzchen, wer bist du denn?«
    »Das ist Astor«, antwortete Marie-Jeanne, »der alte Kater meiner Tante.«
    Julien hockte sich hin und kraulte das Tier zwischen den Ohren. Astor rieb seinen Kopf an der liebevollen Hand.
    Marie-Jeanne ging ebenfalls in die Hocke.
    »Sag mal, Tiere scheinen dich ja zu mögen. Dieser Kater ist der eigensinnigste, den ich je gesehen habe. Er akzeptiert nur sein Frauchen!«
    Marie-Jeanne hatte den Eindruck, nicht mehr zu existieren. Julien war in die Betrachtung des Katers versunken, streichelte

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