Begraben
sein Freund ihm eine Kusshand zuwarf und zum Ausgang lief.
*
Unter der Dusche wiederholte Cyrille im Geist die Erfolgsbilanz des Zentrums Dulac, die sie den beiden Amerikanern Debra Gibson von Pharma Ethics und José Barton von Merx darlegen wollte. Der Buchhalter würde sie mit zusätzlichen Details unterstützen, aber er hatte wenig Charisma, und es wäre ihr Job, die Überzeugungsarbeit zu leisten.
Sie ließ das warme Wasser über ihr Gesicht rinnen und versuchte sich vorzustellen, es wäre der tropische Regen auf Mauritius, wo sie in drei Wochen ihren Urlaub verbringen würden. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Du hast ein unglaubliches Problem, meine Liebe. Na schön, sie litt unter Amnesie. Wenn sie von dem ausging, was Nino ihr erzählt hatte, erstreckte sich ihre Gedächtnislücke über einen Zeitraum von drei Wochen bis mehreren Monaten. Irgendetwas hatte ihre Erinnerung an diese Periode ausgelöscht. Widerwillig konzentrierte sich Cyrille auf das, was ihr noch geblieben war. Eine Reise in die Vergangenheit, die sie verabscheute, weil diese den einzigen Fehltritt ihres Lebens beinhaltete, den sie lieber für immer vergessen hätte.
Sie zwang sich, alles, was ihr einfiel, laut aufzuzählen, so als würde sie sich einem imaginären Psychiater anvertrauen. »Zum einen erinnere ich mich an die grauenvollen Wachen im Isolationstrakt mit all diesen verlorenen, mit Neuroleptika vollgestopften Menschen, die mir Angst machten. Zweitens an die Abschlussexamina meiner zwölfjährigen Ausbildung, die ich am schlechtesten gemeistert habe, weil ich völlig fertig war.« Der dritte Punkt, der ihr äußerst präsent war, war ihre heimliche Hochzeit im Rathaus des siebten Arrondissements, nur einen Monat nach der ersten Liebesnacht mit ihrem Professor für Neurobiologie. Sie hatte ihn eigentlich für zu alt gehalten, doch andererseits war er einfach hinreißend und umwerfend geistreich. Viertens: Benoîts Unfall. Sie war nicht von seinem Bett gewichen und hatte sich offiziell als seine Ehefrau behauptet. Die Besserung. Die partielle Heilung. Dann Benoîts Bitte, ihn im Oktober 2000 zu seinem ersten neurochirurgischen Kongress nach Bangkok zu begleiten. Fünftens: der Kongress und die Katastrophe. Einmal dort angekommen, hatten sie Zweifel beschlichen. Benoît als Privatmann und im Kreis seiner Kollegen, das war nicht dasselbe. Sie hatte den Umgang mit diesen Patriarchen, die sie behandelten wie eine Praktikantin oder eine Intrigantin, wenn nicht gar beides, nicht länger ertragen. Sie hatte sich geweigert, an den Abendessen teilzunehmen; und sich Benoît gegenüber immer unausstehlicher und hilfloser verhalten. Abends im Hotel hatte sie dann vor Erschöpfung geweint.
Sechstens: Ihr fiel wieder ein, dass sie ihren Koffer gepackt und eines Morgens die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Was dann geschehen war, ging nur sie etwas an, und niemand durfte davon erfahren. In ihrem tiefsten Inneren konnte sie es heraufbeschwören, ohne sich bedroht zu fühlen. Sie hatte sich in ein kleines Hotel in der Khao San Road, Treffpunkt der Rucksacktouristen, geflüchtet. Damals wollte sie nicht mehr Ärztin sein, sondern frei, endlich leben und Musik machen … oder irgendetwas anderes. Ganz schön abgedreht. Siebtens: Sie erinnerte sich an einige unerwartete und verrückte Begegnungen. Maude, die eigenwillige, völlig hemmungslose Kanadierin. Und Youri, der hochsensible Estländer, der mit unglaublicher Kreativität und viel Humor Akkordeon spielte, ganz so, wie Picasso und Dalí gemalt hatten. Achtens: Jener Abend, an dem sie getrunken, geraucht, alles Mögliche geschluckt und sich dann geliebt hatten. Cyrille errötete bei dem Gedanken. Neuntens: ihre schmachvolle Rückkehr zum Kongress. Zehntens: ihr Erwachen neben Benoît, verwirrt und voller Reue. Sie verschwieg ihm ihren Fehltritt und kämpfte mit ihrem schlechten Gewissen. Dann die Heimkehr nach Paris. Der Aufenthalt in Kalifornien. Und wieder Paris, das Zentrum, und jetzt stand sie hier unter dieser Dusche.
An all das erinnerte sie sich sehr wohl, nicht aber an Daumas und ihre Freundschaft mit Nino und Tony. Es handelte sich vermutlich um eine lakunäre Amnesie. Wahrscheinlich durch diesen Drogencocktail, den ich mit Youri geschluckt habe. Und jetzt kam der geheimnisvolle Julien Daumas zurück und ließ sie nicht mehr los. Er war irgendwo in ihrem Gedächtnis verborgen, genauso, wie er sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt, bereit zu weiteren Schandtaten. Ich muss
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