Begraben
schienen ihr sehr hoch gesteckt. Und zum ersten Mal sagte sie sich, dass sie sie womöglich nicht erreichen würde.
Die Investoren der Pharmakonzerne Pharma Ethics und Merx hatten sich unmissverständlich geäußert. Sie garantierten die Finanzierung des nächsten und übernächsten Jahres, unter der Bedingung, dass das Zentrum mehr Medienpräsenz zeigte. Sie wollten das Ergebnis ihrer Investitionen in der Öffentlichkeit sehen, in Zeitungsartikeln und Fernsehberichten, um den Ärzten Meseratrol besser verkaufen zu können. Das Medikament, das sich in Frankreich noch in der Phase der bedingten Zulassung befand und nur bei klinischen Studien eingesetzt werden durfte, würde demnächst in Amerika auf den Markt kommen. »Wir erwarten mehr Engagement in der internationalen Szene«, hatte Debra Gibson ohne Umschweife erklärt und dabei ihre Auster geschlürft. »Wir brauchen eine hervorragende Presse und positive Patientenberichte über die Behandlung mit Meseratrol. Ich hoffe, Ihr Mann kommt zur Markteinführung nach Amerika, um eine kleine Rede zu halten«, hatte José Barton hinzugefügt. Der Aufgabenkatalog sah folgendermaßen aus: Cyrille Blake sollte ihre medizinische Arbeit reduzieren und ihrem Team übertragen, um sich vorrangig auf die Public Relations zu konzentrieren. Die Amerikaner wollten sie im Rampenlicht sehen, sie sollte sich mehr den Medien und der Politik widmen.
Cyrille kaute an ihrem Daumen. Es war wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt, dass die Öffentlichkeit Wind von Amnesie, Drogenkonsum oder einem Patienten, der Tiere verstümmelte, bekam. Wenn sie nicht ihren Ruf und ihre Zukunft aufs Spiel setzen wollte, musste sie dieses Problem schnellstens aus der Welt schaffen – und zwar allein.
Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu und gab nervös eine Suchanfrage in Pubmed ein, eine weltweite Datenbank für medizinische Veröffentlichungen. Sie wollte alles über die lakunäre Amnesie erfahren, die sich über wenige Stunden bis hin zu mehreren Monaten erstrecken konnte und oft Folge eines Unfalls, einer Kopfverletzung, vor allem aber von Drogenkonsum war. Sie überflog die Ergebnisse. Das E-Mail-Programm zeigte ihr eine neue Nachricht an. Sie wusste ganz genau, dass sie sich Benoît hätte anvertrauen müssen. Aber wie sollte sie das Thema anschneiden, ohne eine Kettenreaktion auszulösen, die für ihre Beziehung gefährlich werden könnte? Sie wäre gezwungen, über die Details ihrer »Flucht« in Thailand zu sprechen und ihm ihren Seitensprung zu gestehen. Ein Tabu, seit sie in den Schoß der Familie zurückgekehrt war.
Cyrille öffnete die Nachricht.
Absender: Nino.
»Tut mir leid, keine Krankenakte Daumas im Zentralarchiv. Sie muss woanders sein, und ich habe da eine Vermutung. Baci , N.«
Keine Krankenakte Daumas im Zentralarchiv! Das ist ja was ganz Neues … Was haben sie bloß in Sainte-Félicité damit angestellt? Sie ließ die Mail geöffnet und begann, alles auszudrucken, was sie in den wissenschaftlichen Zeitschriften der letzten fünf Jahre gefunden hatte, vor allem die universitären Forschungsarbeiten aus Amerika und die Berichte zweier französischer Pharmakonzerne. Langsam kristallisierte sich eine Idee heraus.
Marie-Jeannes helles Lachen ließ sie aufhorchen. Sie griff sofort zum Telefon: »Kannst du bitte kurz zu mir kommen?« Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür, und ein flammendroter Lockenschopf tauchte auf. Das junge Mädchen trug eine ausgestellte Jeans und eine Tunika. Sie lächelte, und ihre Wangen waren wieder rosig, doch Cyrille bemerkte, als sie Benoîts Nichte sah, dass sich etwas verändert hatte. Marie-Jeanne wich ihrem Blick aus.
»Hallo Tantchen!«
Sie hielt einen Notizblock und einen Bleistift in der Hand und hockte sich auf die Armlehne des Bambussessels. Cyrille beobachtete sie.
»Was ist los, Miss?«
Marie Jeanne runzelte die Stirn.
»Nichts, alles okay!«
»Und die Migräne?«
»No problem, ich glaube, ich hatte vor allem Schlaf nötig.«
»Und, hast du gut geschlafen?«
»Ja, ganz ordentlich. Tut mir leid wegen gestern. Ich wollte dich nicht im Stich lassen.«
Cyrille klopfte mit ihrem Stift an ihre Lippen.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Marie-Jeanne, aber ich denke – das heißt, ich bin eigentlich überzeugt davon –, dass du gestern nicht wirklich krank warst. Stimmt’s?«
Marie-Jeanne starrte auf ihre rosafarbenen Crocs, diese hässlichen entenfußförmigen Gummischlappen, die Cyrille zunächst für Gartenschuhe
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