Begraben
gehalten hatte. Das Mädchen antwortete nicht. Sie konnte ihrer Tante nichts vormachen, diese schien ihre Gedanken lesen zu können. Also entschloss sie sich zur Ehrlichkeit, was sich bei Cyrille im Allgemeinen auszahlte.
»Okay, ich war mit meinem neuen Liebhaber zusammen.«
Cyrille legte den Stift auf den Tisch, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. Sie wusste nicht, welche Rolle sie einnehmen sollte – die der Chefin, der Tante, der Freundin oder der Psychiaterin.
»Und das hat dich am Arbeiten gehindert …«
»Na ja, er war nur auf der Durchreise, und es ging ihm nicht besonders. Er fährt bald weiter … Und ich wollte etwas von ihm haben.«
Marie-Jeanne hatte den Blick noch immer nicht gehoben und schnipste mit den Fingernägeln.
»Ehrlich gesagt … ich frage mich … ob ich ihn nicht begleiten soll.«
Beinahe hätte Cyrille »Wusste ich’s doch!« ausgerufen. Marie-Jeanne tappte in sämtliche Fallen des Lebens! Ausgerechnet jetzt, wo sie endlich ein Zuhause, einen festen Job, ein gutes Gehalt und Aufstiegschancen hatte, war sie bereit, für irgendeinen Kerl alles hinzuwerfen.
»Marie-Jeanne … ich bin nicht deine Mutter, und du bist volljährig. Aber hältst du es wirklich für eine gute Idee, dein Leben aufzugeben, all das, was dir am Herzen liegt und was du dir durch deine Intelligenz und Kompetenz aufgebaut hast, nur weil du jemanden getroffen hast … Wenn du ihm wichtig bist, kommt er zurück.«
Marie-Jeanne lachte freudlos auf und sah sie endlich an.
»Das verstehst du nicht, ich bin nicht irgendjemandem begegnet. Er ist der Mann, auf den ich seit jeher warte. Mir gefällt alles an ihm. Wenn … wenn er geht, finde ich nie wieder einen wie ihn. Ich glaube, ich muss meine Geschichte mit ihm ausleben. Du kannst das nicht begreifen. Wir sind nicht gleich.«
Cyrille biss sich auf die Lippe. Marie-Jeanne nutzte die Schwachstelle, die sie gespürt hatte, aus.
»Hat er dir angeboten mitzukommen?«
»Ja, das heißt, nicht wirklich, aber er hat es mir zu verstehen gegeben.«
Cyrille schloss kurz die Augen.
»Pass auf, die Männer mögen es nicht, wenn man ihnen Ketten anlegt. Wenn er dir also nichts angeboten hat …«
Und nach einer wohldosierten Pause fuhr sie fort:
»Ich kann dich nicht zurückhalten, aber du sollst wissen, dass du hier gebraucht wirst. Ich werde nicht so schnell wieder jemanden wie dich finden. Überleg es dir gut, ehe du dich auf irgendein unsicheres Abenteuer einlässt.«
Erneute Pause.
»Wie heißt er?«
Marie-Jeanne rang die Hände, fast bereit, den Namen »Julien« auszusprechen. Doch das Telefon rettete sie. Madame Planck. Cyrille sprach mit ihrer Patientin, und Marie-Jeanne nutzte die Gelegenheit, um mit einem kleinen Handzeichen das Zimmer zu verlassen.
Nachdem Cyrille aufgelegt hatte, war sie noch deprimierter als vorher. Wie konnte man ein junges Mädchen, das sich in einen Abenteurer verliebt hatte, zur Vernunft bringen? Ihre kleine Welt war im Begriff auseinanderzubrechen. Sie atmete tief durch und zwang sich, positiv auf diese Veränderung zu reagieren. Nichts ist für ewig. Das muss man nur akzeptieren.
Sie konzentrierte sich auf Ninos E-Mail, bedankte sich und fügte nach kurzem Zögern die Frage hinzu, ob er nicht bei ihr vorbeikommen könne, da sie ihn um einen »weiteren« Gefallen bitten müsse. Dann erhob sie sich, um Mireille Ralli zu empfangen, die einzige Patientin des Nachmittags, die bereits im Wartezimmer saß.
Cyrille Blake begrüßte Madame Ralli und entfernte die Plastikhülle von einem Gerät. Es sah aus wie ein Zahnarztstuhl, an dem ein großer Teleskoparm mit einer Antenne angebracht war. Die transkranielle Magnetstimulation war eine geniale Verbindung zwischen der Außenwelt und dem Gehirn. In einem großen Kasten hinter dem Sitz befand sich eine Kupferspule, die, von Strom gespeist, ein Magnetfeld aufbaute. Die Ärztin legte die Sonde auf die Stelle, die sie besonders stimulieren wollte, auf die Kopfhaut der Patientin. Das Magnetfeld drang schmerzlos bis zum Kortex, das heißt, zur Großhirnrinde, durch und stimulierte deren Neuronen. Studien hatten die Wirksamkeit der TMS bei Schizophrenie und starken Depressionen, gegen die Medikamente nichts auszurichten vermochten, nachgewiesen.
Sechs solcher Apparate waren in Frankreich im Einsatz, drei davon in Paris. Im Zentrum Dulac wurde diese Therapie seit knapp einem Monat mit sehr guten Ergebnissen eingesetzt. Nur Doktor Mercier und Cyrille Blake waren
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