Begraben
bisher zur Bedienung des Geräts ausgebildet. Statt die Patienten mit oft wirkungslosen Angstlösern und Antidepressiva, die sie oft benommen machten, zu behandeln, verschrieb Cyrille lieber mehrere Sitzungen der transkraniellen Magnetstimulation, die das Gehirn ohne schädliche Nebenwirkungen aktivierten.
Die MRT-Aufnahmen der Patientin vor Augen, programmierte Cyrille den Apparat. Mireille Ralli litt unter saisonalen Depressionen. Sobald sich der Herbst näherte, versank sie in einen Zustand der Traurigkeit, der sie so sehr beeinträchtigte, dass sie weder arbeiten, noch soziale Kontakte pflegen oder sich um ihre Familie kümmern konnte. Cyrille ließ sie Platz nehmen und schob ihren Kopf in die lederne Kopfstütze, dann näherte sie die Sonde der rechten entsprechenden Gehirnhälfte. Die linke Hälfte, so hatten in den letzten Jahren amerikanische Studien über bildgebende Verfahren unter der Leitung von Richard Davidson an der Universität Wisconsin nachgewiesen, war für das Glück zuständig. Der Neurologe hatte mit dem Dalai Lama über das »glückliche Gehirn« gearbeitet. Denn die Zonen der linken Hemisphäre aktivierten sich bei positiven Handlungen oder Gedanken. Wie bei vielen Patienten des Zentrums Dulac war bei Mireille Ralli die Tätigkeit dieser Gehirnhälfte verkümmert, während das Corpus amygdaloideum, der Mandelkern, ein Teil des Gehirns, der für die Entstehung von Angst zuständig ist, hyperaktiv war. Der für die Gedächtniskonsolidierung zuständige Hippocampus hingegen war verkleinert. Diese drei Faktoren zusammen kennzeichneten eine Depression.
Dies war die dritte Sitzung, und die Patientin kannte das Prozedere. Nachdem sie alles überprüft hatte, schaltete Cyrille den Strom ein. Mireille Ralli war ruhig und entspannt und rührte sich nicht. Diese Therapie half ihr seit einem Jahr sehr gut und ermöglichte es ihr, den Winter ohne ständige Niedergeschlagenheit und ohne Selbstmordgedanken zu überstehen.
*
Nino Paci war zu früh dran. Durch die Glastür beobachtete er, wie Cyrille die eigenartige Maschine bediente. Als er sie so konzentriert und selbstsicher vor sich sah, fiel es ihm schwer, eine Verbindung zu der verzweifelten jungen Frau vom Vorabend herzustellen. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, die Anspannung des Kinns, die etwas weniger runden Wangen und der klassische Haarschnitt verliehen ihr eine ruhige Autorität, die sie vor zehn Jahren nicht gehabt hatte. Der Krankenpfleger seufzte. Wo war das junge Mädchen geblieben, das über seine Witze lachte und weinte, wenn ein Patient Selbstmord beging oder einen Rückfall erlitt.
Er wartete, bis Cyrille ihre Behandlung beendet hatte, und schlug ihr dann vor, in einem Bistro etwas zu trinken. Nino bestellte ein Bier, Cyrille einen Tee.
»Danke, dass Sie … dass du gekommen bist«, sagte Cyrille und zuckerte ihren Earl Grey. »Und ich bin dir auch sehr dankbar für deinen Besuch im Archiv, selbst wenn er nichts ergeben hat.«
Nino schüttelte den Kopf.
»Seine Krankenakte war leer. Ich habe nur das Einlieferungs- und Entlassungsdatum mit dem Vermerk ›Zustand stabilisiert‹ gefunden.«
»Weder Diagnose noch Behandlungsindikation?«
»Nichts.«
»Sind die Akten noch nicht digitalisiert?«
»Nur die der letzten drei Jahre. Alles vor 2005 ist noch auf Papier.«
»Wo ist dieses verdammte Krankenblatt dann?«
»Ich weiß es nicht genau, vermutlich irgendwo bei Manien.«
Der Sizilianer genoss Cyrilles Überraschung.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe mein Team befragt, und Colette … Erinnerst du dich an sie?«
»Ja, ist sie noch nicht in Rente?«
»Es ist ihr letztes Jahr. Wir verstehen uns sehr gut. Sie ist zu mir gekommen und hat mir gebeichtet, dass Manien sie um bestimmte Akten gebeten hat. Und diese sind bis jetzt noch nicht wieder an ihrem Platz.«
»Liegt das schon lange zurück?«
»Mehrere Jahre, und sie macht sich Vorwürfe, nichts gesagt zu haben. Sie fürchtet, man könnte ihr irgendwann Nachlässigkeit vorwerfen.«
»Und was wollte Manien damit anfangen?«
»Das habe ich sie nicht fragen können, wir sind unterbrochen worden.«
Cyrille fluchte.
»Wenn ich daran denke, dass dieser Idiot mich gestern mit der Bemerkung, das gehe ihn nichts an, rausgeworfen hat! Ich frage mich, was er zu verbergen hat.«
Nino trank sein Bier aus der Flasche.
»Warum wolltest du mich treffen?«
Cyrille stellte ihre Tasse ab, der Tee war noch zu heiß.
»Ich möchte dich bitten, mir zu helfen, mich selbst zu
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