Begraben
Dusche. Der heutige Tag versprach anstrengend zu werden. Bevor sie gestern die Klinik verlassen hatte, hatte sie noch einen letzten dringenden Anruf erledigt und mit jemandem telefoniert, den sie zwar nicht persönlich kannte, dessen Name jedoch weit über Frankreichs Grenzen hinaus einen guten Ruf genoss. Sie hatten sich für heute Morgen zum Frühstück verabredet.
Nachdem sie geduscht und angezogen war, begnügte sich Cyrille mit einem Glas Orangensaft und zwei Aspirin. Gegen sieben Uhr verließ sie die Wohnung und stieg in ihr Auto. Im Zentrum von Paris war noch wenig Verkehr, als sie in ihrem Wagen stadtauswärts fuhr. Während der Fahrt hörte sie auf dem Nachrichtensender France Info zufällig das Ende einer Meldung, die ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte: »Grausiger Fund von verstümmelten Tieren …«
Cyrille machte eine Vollbremsung und fluchte. Verdammt! Träumte sie? Hatte sich ihre Befürchtung bestätigt? Sie stellte das Radio lauter, doch der Sprecher war schon zum nächsten Bericht übergegangen. Sie schaltete auf einen anderen Sender um. Vielleicht würde sie dort mehr Details erfahren. Vergebens. Hatte sie sich einfach nur verhört? War die Geschichte ihres Patienten schon publik geworden, und würde man ihr bald Fragen stellen? Sie musste unbedingt Benoît alles erzählen – von Bangkok, ihrer Flucht, ihrer Affäre –, bevor er es von jemand anderem erfuhr. Doch im Moment fehlte ihr dafür einfach die Kraft.
Sie verfuhr sich in Champigny-sur-Marne, weil sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurde: Was für ein Glück, dass ich den an mich gerichteten Brief mitgenommen habe. Wenn man den gefunden hätte, wäre ich auf der Stelle verhört worden . Sollte sie zur Polizei gehen? Nein, nicht, bevor sie wusste, in welcher Verbindung sie zu Julien Daumas stand. Eine Viertelstunde lang irrte sie durch den Ort. Schimpfend hielt sie schließlich am Straßenrand an und kramte im Handschuhfach nach dem Navigationsgerät, einem Geburtstagsgeschenk ihres Mannes, das sie so gut wie nie benutzte. Sie schaltete es ein und brauchte ziemlich lange, um das gewünschte Ziel einzugeben. Eine metallene Stimme forderte sie auf, umzukehren. Fluchend folgte Cyrille den Anweisungen.
Sie benötigte zehn Minuten, um zur Île Sainte-Cathérine an den Ufern der Marne zu gelangen, und erreichte, etwas später als vereinbart, um acht Uhr ihr Ziel. Sie parkte vor dem stattlichen Anwesen, stieg aus und klingelte am Tor, das sich automatisch öffnete. Dann stand Cyrille vor einem Architektenhaus auf Pfählen, dessen Garten an einen Seitenarm der Marne grenzte. Die Haustür war offen, und so trat sie ein. Eine imposante Wendeltreppe inmitten eines tropischen Gewächshauses voller riesiger rosafarbener Bougainvilleen führte in den ersten Stock. Beeindruckt von der Atmosphäre, stieg Cyrille die Stufen empor.
Am Ende eines großen lichtdurchfluteten Lofts erwartete sie Maurice Fouestang. In seinem Rollstuhl sitzend, las er Zeitung, neben sich einen Tisch mit Croissants, Kaffee und einer Karaffe frisch gepresstem Orangensaft. Als Erstes fielen die blassblauen Augen des alten Mannes auf, die sein Gegenüber mit irritierender Intensität und Wachheit musterten, als Nächstes sein eher beunruhigendes als freundliches Lächeln. Der Rest war nicht weiter ungewöhnlich: ein kleiner, fast achtzigjähriger Mann, der behindert war.
Er faltete die Zeitung zusammen, warf sie auf den niedrigen Glastisch, setzte den Motor seines Rollstuhls mit Hilfe des Joysticks in Gang und fuhr auf seinen Gast zu. Eine Wand war bedeckt von Regalen voller Bücher über Psychiatrie, Medizin, Chirurgie, Psychoanalyse und Hypnotherapie, wobei seine eigenen Werke gut sichtbar platziert waren. Cyrille reichte ihm zur Begrüßung die Hand. Fouestang war Cyrille Blake nie persönlich begegnet und fand sie jünger, als er sie sich vorgestellt hatte. Er wusste, dass sich ihr Buch über das Glück genauso oft verkauft hatte wie seine letzte Veröffentlichung und dass sie ihm mit ihrer schnellen, angeblich revolutionären Therapie für mehr Lebensfreude regelmäßig Patienten wegschnappte. Daher war er ihr gegenüber skeptisch, hatte aber dennoch, und nicht ohne Genugtuung, eingewilligt, sie zu empfangen, als sie ihn dringend um einen Termin gebeten hatte.
Galant schenkte er ihr Kaffee ein und bot ihr etwas zu essen an. Sie nahm sich ein Croissant und brach ein Stückchen ab, das sie ohne großen Appetit verzehrte.
Fouestang goss sich
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