Begraben
für sein öffentliches Auftreten und für die vielen Vorträge, die er bei großen Kongressen hielt. Seit seiner Operation, die ihm zwar das Leben gerettet, aber seine linke Gesichtshälfte gelähmt hatte, war sein Ansehen noch gestiegen. Eigenartigerweise hatte ihm seine Behinderung den Respekt seiner Kollegen eingebracht und ihm den Ruf eines Weisen verliehen, der aus seiner Krankheit gestärkt hervorgegangen war. Er erhob sich, ging nach Hause und ließ sich von seiner Frau die Wasserpfeife und seine Tropfen bringen, ohne die er nicht mehr auskommen konnte. Er zog seine Schuhe aus und nahm auf dem Diwan Platz. Heute hatte er seinen freien Tag. Er schlug die Akte der an Gedächtnisschwund leidenden Kinder auf, die unter seltsamen Umständen im Süden des Landes gefunden worden waren. Dann zog er an seiner Schischa und seufzte. Wer würde sich um sie kümmern, wenn er nicht mehr lebte? Er dachte an Doktor Blake, und sein Blick verlor sich in der Ferne seines Gedächtnisses. »Du kannst deiner Vergangenheit nicht entfliehen.«
26
12. Oktober
Cyrille Blake lief barfuss über den weichen Teppichboden. Wie spät ist es? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, aber hinter den Fensterläden war es noch dunkel. Sie hatte tief und fest geschlafen, so als wäre sie in einem kalten Schacht versunken, und war jetzt noch immer leicht benommen. Wo ist denn mein Nachthemd? Sie war nackt. Sie tastete sich zur Badezimmertür vor, öffnete sie und setzte sich, ohne Licht zu machen, auf die Toilette. Die Augen halb geschlossen, glaubte sie, tanzende Schatten um sich wahrzunehmen. Nachdem sie sich erleichtert hatte, erhob sie sich, um ins Bett zurückzugehen, doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Hunger hatte, einen Bärenhunger. Sie sah den Parmaschinken und den Käse im Kühlschrank vor sich, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und öffnete leise die Tür zum Flur. Draußen war es stockfinster. Cyrille tastete sich über den Gang zum Wohnzimmer, das ebenfalls im Dunkeln lag. Sie hatte das Gefühl zu schweben. Trotz ihres Bademantels fröstelte sie. Sie fragte sich erneut, warum sie nackt aufgewacht war. Ihre rechte Hand stieß gegen das thailändische Regal und glitt dann liebkosend über die steinerne Buddhastatue, die sie aus Indonesien mitgebracht hatten. Wer hat denn die Jalousien heruntergelassen? Sicher Benoît, er wurde morgens nicht gerne vom Licht gestört. Sie meinte Schatten wahrzunehmen, die ihre Beine und ihr Gesicht streiften. Es herrschte Totenstille, und ihr war unheimlich zumute. Dann sagte sie sich, wie dumm es war, in ihrem Alter Angst vor der Dunkelheit zu haben. Die Hände vor sich ausgestreckt, um nicht gegen das Sofa oder die Kante des Glastisches zu stoßen, tappte sie durchs Wohnzimmer. Sie steuerte die Lampe mit dem chinesischen Schirm rechts neben dem Sofa an, deren Licht gedämpft war.
Plötzlich vernahm sie einen Klagelaut. Er kam von der Couch. Ihre Hand glitt über das Kabel, suchte nach dem Schalter und betätigte ihn.
Vor dem Sofa ausgestreckt lag ihr Kater, so, als wolle er sich den Bauch von der Sonne wärmen lassen. Aber die Sonne schien nicht, und dies war auch nicht sein normaler Schlafplatz.
Cyrille kniete sich neben ihn. »Alles in Ordnung, Astor?«, fragte sie. Die Katze bewegte den Kopf ein wenig und hob die Augen zu ihr. Die blauen Pupillen würden nie wieder das Licht des Tages sehen. Geronnenes Blut klebte in den Höhlen.
Cyrilles Schrei zerriss die Stille.
*
Bis Benoît aus dem Bett gesprungen war und seine Frau erreicht hatte, war Astor tot. Er hatte zu viel Blut verloren, als dass man ihn noch hätte retten können.
Eine Viertelstunde später saß Cyrille stumm und wie erstarrt auf dem Sofa. Ihre Hand ruhte auf dem noch warmen Körper ihres Katers, der in ein Badetuch gewickelt war.
Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, ihr Gesicht drückte eher Zorn als Erschöpfung aus. Sie überlegte, ohne sich zu rühren oder ein Wort zu sagen. Als sie das Blut vom Teppich entfernen wollte, hatte ihr Mann sie zurückgehalten.
»Fass nichts an, ich rufe meinen Pokerpartner Yvon Maistre an, der ist Inspektor bei der Kripo des siebten Arrondissements. Wenn es Fingerabdrücke von Daumas gibt, müssen die festgehalten werden, damit man ihn hinter Gitter bringen kann.«
Langsam begann sie zu begreifen, was passiert war und was das bedeutete.
Daumas war nicht mehr nur ein Patient in ihrem Zentrum, der eine neurotische Beziehung zu seiner
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