Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
er Paris nicht verlassen. Ich habe ihn gestern hier im Viertel gesehen.«
    Marie-Jeanne erhob sich.
    »Na ja, ich habe jedenfalls nichts damit zutun. Wenn es dir recht ist, gehe ich wieder an die Arbeit.«
    *
    Um neun Uhr dreißig betrachtete Cyrille nachdenklich den Bildschirm ihres Computers, ohne sich zur Arbeit motivieren zu können. Mit den Zähnen riss sie ein abstehendes Stück von ihrer Nagelhaut ab, die zu bluten begann. Sie saugte an der Wunde. Im Grunde wartete sie auf Benoîts Anruf, um die Ergebnisse der Ermittlungen zu erfahren. Ein Außenstehender musste ihr erklären, wie dieser Irre eingedrungen war, sonst würde sie keinen Fuß mehr in die Wohnung setzen und schon gar nicht dort schlafen können.
    Um zehn Uhr dreißig hatte das Telefon noch immer nicht geklingelt. Cyrille fragte sich, ob Marie-Jeanne vielleicht die Anrufe abfing, kam sich aber gleich darauf lächerlich vor. Warum sollte sie?
    Um elf Uhr dreißig begann die Besprechung mit ihrem Ärzteteam. Maryse Entmann brachte die Behandlung leichter psychischer Störungen mit Meseratrol zur Sprache. Cyrille bemerkte, dass die Psychoanalytikerin gegenüber den anderen eine starre Haltung einnahm. Eine Haltung, die in dem Augenblick, da sich das Medikament auf dem Prüfstand befand, nicht gerade angebracht war. Sie baute eine Gegenfront auf. Will sie meinen Platz?, fragte sich Cyrille.
    Nach Ende der Sitzung kaufte sie sich in einem Café gegenüber dem Kinderkrankenhaus Necker etwas zum Mittagessen. Es tat ihr gut, sich die Beine zu vertreten und die feuchte Luft zu spüren. Im Hof sah sie einen Jungen von zehn, elf Jahren, der im Rollstuhl saß und am Tropf hing. Sie schämte sich. Was ist im Vergleich zum Leiden dieses Jungen schon schlimm an einer lakunären Amnesie? Bedrückt ging sie in ihr Büro zurück, wo sie ohne Appetit ihr Sandwich aß.
    Um dreizehn Uhr hielt sie es nicht mehr aus und rief Benoît an. Sie geriet an den Anrufbeantworter. Ihr iPhone vibrierte in ihrer Manteltasche. Das Display zeigte keine Nummer an. Sie nahm das Gespräch an.
    »Benoît?«
    »SOS verlorene Spießbürgerin?«
    Cyrille lächelte. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich so freuen würde, seine Stimme zu hören.
    »Nino! Bist du mir nicht mehr böse?«
    »Keine Zeit! Was tust du in den nächsten zwei Stunden? Bist du beschäftigt?«
    »Ich muss die Planung für die kommende Woche machen.«
    »Ich stehe unten vor der Tür. Nimm deinen Mantel und deine Tasche, ich warte auf dich.«
    Cyrille runzelte die Stirn.
    »Was hast du vor?«
    »Das wirst du sehen. Ich störe dich nicht grundlos.«
    »Das denke ich mir.«
    »Cyrille?«
    »Ja?«
    »Nimm deinen Arztkittel mit.«

27
    12.   Oktober
    Die weißen Kittel und Namensschilder wirkten beim Pflegepersonal der Klinik in Garches wahre Wunder. Clara Marais saß an einem Werktisch und bastelte kleine Tiere. Unermüdlich fädelte sie die winzigen bunten Plastikperlen auf den Nylonfaden. Sie liebte diese entspannende Arbeit. Und sie, die sonst so ungeschickt war, machte ihre Sache sehr gut. Sie sah zwei unbekannte Ärzte, einen Mann und eine Frau, auf sich zukommen. Die beiden zogen sich Stühle heran und nahmen ihr gegenüber Platz. Er sah aus wie Dr.   Kovac aus der Fernsehserie Notarzt – zwar nicht ganz so attraktiv, aber trotzdem. Sie wirkte elegant und schick, aber sehr freundlich. Seit sie hier im Krankenhaus war, hatte Clara dreizehn Kilo zugenommen, denn die Medikamente wirkten appetitanregend. Sie fand sich abstoßend, ihre Haut war fettig und pickelig wie bei einem Teenager, ihr dünnes schwarzes Haar klebte am Kopf. Im Sitzen hatte sie das Gefühl, auf den Speckrollen ihres Bauchs zu ruhen. Und wenn sie sich im Vorübergehen in einem Spiegel sah, hatte sie den Eindruck, keinen Hals mehr zu haben. Als sich jetzt der gut aussehende Doktor an sie wandte, errötete sie.
    »Guten Tag Clara, ich heiße Nino.«
    »Guten Tag.«
    »Ich bin Krankenpfleger!«
    »Aha!«
    Und dabei hätte sie schwören können, dass er Arzt war. Sie versteckte ihre Hände unter dem Tisch, so als hätte man sie auf frischer Tat ertappt. Die Frau, die sich als Ärztin vorstellte, lächelte ihr beruhigend zu. Clara hatte Vertrauen.
    »Ich war gestern bei deiner Mutter, und die hat mir gesagt, wo ich dich finden kann. Wie geht es dir?«, fragte Nino.
    Clara blinzelte. Sie hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr gesehen. Beim letzten Mal hatten sie sich gestritten, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, warum.
    »Gut.«
    »Hier, das

Weitere Kostenlose Bücher