Begraben
und wie lange würde es dauern? Sie spürte, dass sie in der letzten Nacht in ihren Grundfesten erschüttert worden und dass ihr inneres Gleichgewicht ins Wanken geraten war. Der Zweifel hatte sich in ihr eingenistet, und die Selbstsicherheit, die sie sich mit den Jahren mühsam erkämpft hatte, wurde rissig und bröckelte.
Sie betrat das Zentrum und fuhr direkt mit dem Aufzug in den ersten Stock. Sie war so angespannt, dass ihre Nackenmuskeln schmerzhaft verhärtet waren. Auf dem Weg in ihr Büro hatte sie den Eindruck, alle Blicke auf sich zu lenken. Sie nahm sich selbst gleichsam von außen wahr: ihre verkrampfte Haltung, ihr steifer Gang – nichts an ihr wirkte natürlich. Sie sagte sich, dass sie sich, in Bangkok angekommen, als Erstes eine Thai-Massage gönnen würde. Weit weg von Paris, wo Geisteskranke in den Straßen herumliefen und in ihr Haus eindrangen, weit weg von ihrer mysteriösen Vergangenheit und von Ärzten, die sich für Doktor Mengele hielten.
Bei dem Gedanken an eine Massageliege, Tausende Kilometer entfernt, seufzte sie auf. Sie stellte sich die Lotusblüten vor, die in Becken mit klarem Wasser schwammen, die sanften Klänge der Entspannungsmusik, den Duft der Gardenien und des Mandelöls, die kräftigen Hände, die ihre Verspannungen lösten. Langsam wurde sie ruhig und erinnerte sich an einen Satz, den ihr Vater ihr als Kind immer wieder gesagt hatte: Vergiss nie deinen Traum, meine kleine Lily, bewahr ihn und verteidige dich gegen jene, die behaupten, du würdest es nicht schaffen. Von diesem Gedanken besänftigt, öffnete sie die Tür zu ihrem Büro.
Doch der Raum war nicht leer.
Den Kopf in die Hände gestützt, saß Benoît auf dem Diwan und wartete auf sie. Neben ihm blätterte Muriel Wang in einer Zeitschrift, die sie beiseitelegte.
Cyrille begriff sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Das Blut stieg ihr zu Kopf.
»Was ist? Was ist los?«
Benoît erhob sich langsam, kam auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Setz dich, mein Liebling, ich habe auch Muriel hergebeten.«
Cyrilles Blick wanderte von ihrem Mann zu ihrer Freundin. Sie hatten beide mitten am Tag ihre Arbeit verlassen, um herzukommen! Meinem Vater ist etwas passiert! Benoît hat Krebs, oder ich habe Alzheimer …
»Was? Was ist los?«
»Setz dich bitte, mein Liebling.«
Ein Frösteln durchfuhr sie.
»Aber was, zum Teufel, ist los?«
Mit fester Hand drückte Benoît sie auf den Sessel. Sie blickte ihn an.
»Mein Liebling, das ist etwas schwierig. Mein Freund Yvon Maistre hat heute Morgen seine Leute zu uns geschickt. Sie haben die ganze Wohnung durchsucht und überall Proben genommen.«
»Ja und?«
Muriel war zu ihr getreten und legte ihre warme Hand auf die von Cyrille, die ihre nicht wegzog. Ihre Angst wuchs. Die Blicke der beiden waren besorgt und voller Mitgefühl. Sie wappnete sich gegen den bevorstehenden Schlag.
»Mein Liebling, es gab Fingerabdrücke.«
»Ja und?«
»Sie stammen alle von einer Person.«
»Das denke ich mir. Von wem?«
»Von dir.«
»Von mir?«
Cyrille rang nach Luft.
»Was soll denn der Blödsinn?«
»Maistre hat mir gesagt, sie stimmten mit denen in deinem biometrischen Pass überein. Heute Nacht ist niemand in unsere Wohnung eingedrungen.«
Cyrilles Gehirn schaltete auf Panik. Der Mandelkern reagierte pfeilschnell und aktivierte die Stressachse, die für die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und einer Menge von Peptiden sorgte. Der präfrontale Cortex aktivierte Tausende von Verbindungen und arbeitete auf Hochtouren, um zu begreifen, was sie hörte. Vergebens.
»Ich verstehe nicht, tut mir leid.«
Muriel fuhr fort:
»Offenbar hattest du heute Nacht einen schlafwandlerischen Anfall, und deine Tat ist dir nicht bewusst geworden.«
Der Satz drang langsam in Cyrilles Gehirn vor. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und der Fußboden begann zu schwanken.
»Rede keinen Unsinn. Das hätte ich nie tun können. Ich habe keinerlei Er…«
Sie unterbrach sich, da ihr plötzlich klar wurde, was sie im Begriff war zu sagen. Sie ging zum Gegenangriff über.
»Und womit hätte ich das tun sollen?«
Benoît saß ihr gegenüber, ihre Knie berührten sich fast. Er ließ ihre Hand nicht los, um ständig in Kontakt mit ihr zu bleiben. Es fiel ihm schwer, die Worte zu formulieren. Sie sah die roten Äderchen in seinen Augen. Wie müde er aussah. Er sprach sehr leise und artikulierte deutlich jede Silbe.
»Wir haben … eine Schere …
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