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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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schob sie die Hände in die Manteltaschen. Je mehr Steine man ihr in den Weg legte, desto verbissener wurde sie. Sie stellte sich in den Mittelgang und suchte mit den Augen die Regalreihen ab.
    »Die Genetik … die Genetik stand damals nicht ganz vorn«, bemerkte sie.
    »Ach nein?«
    »Nein, sie war in die letzte Reihe verbannt, weil es eine relativ neue Fachrichtung der Psychiatrie war. Heute hingegen steht sie ganz am Anfang.«
    »Und?«
    »Das heißt, alles ist umgeräumt worden, alle Regale.«
    An der Ausleihe blätterte ein junger, bereits kahlköpfiger Mann in einer Ausgabe von Die Zellkunde . Erst als Cyrille vor ihm stand, blickte er auf.
    »Guten Tag, ich bin Ärztin und brauche eine Auskunft.«
    »Ja gerne.«
    »Wann sind die Fachgebiete in der Bibliothek umgestellt worden?«
    Nino beobachtete Cyrille verwundert. Sie verrannte sich in eine fixe Idee. Sie hatte ihre Reserviertheit abgelegt und war wieder so enthusiastisch wie früher. Er musste innerlich lächeln und hätte sie gerne in der nächsten Bar zu ein paar Bier eingeladen. Der Student zuckte mit den Schultern.
    »Das weiß ich nicht, da müssen Sie Madame Gabowitz fragen.«
    Cyrille kannte die alte Bibliothekarin polnischer Abstammung, die bis heute ihren Akzent nicht abgelegt hatte.
    »Was wollen Sie von Madame Gabowitz?«
    Die alte Dame war gelb geworden, die Haut, die Haare, alles war gelblich verfärbt. Ansonsten aber war sie unverändert. Ein Abbild des Jedi-Meisters Yoda. Streng und resolut. Nichts entging ihr. Unmöglich, ein Buch an ihr vorbeizuschleusen.
    »Guten Tag, ich habe hier früher meine klinische Ausbildung gemacht und bis zum Jahr 2000 im Krankenhaus gearbeitet. Ich wüsste gerne, wie die Bücher damals angeordnet waren.«
    »Das ist nicht schwer, es hat sich nichts verändert. Sonst wäre ja mein ganzes System durcheinandergeraten.«
    »Sind Sie sicher? Auch die Genetik?«
    »Ach, stimmt! Die Genetik und die Bildgebenden Verfahren sind in die ersten Reihen vorgerückt.«
    »Alle Bücher sind also um zwei Reihen verschoben?«
    »Ja, und ein Teil, der überflüssig geworden war, wurde verkauft.«
    »Vielen Dank!«
    Cyrile drehte sich um, lief zur sechsten Reihe und blieb vor der Nummer vierzehn stehen. Hier fand sie vier Bücher über wissenschaftliche Experimente in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Das neueste Buch war eine bemerkenswerte Untersuchung, die von der medizinischen Fakultät in Tours veröffentlicht worden war und die sie damals gelesen hatte. Sie strich über den Buchrücken, ein eisiger Schauer durchfuhr sie.
    »Ich verabscheue den Humor dieser Mediziner«, knurrte Nino hinter ihr.
    *
    Schweigend setzte der Krankenpfleger Cyrille an der Rue Dulac ab. Sie waren beide zu demselben Schluss gekommen: An Julien Daumas, Clara Marais und den anderen Patienten waren auf Maniens Station Versuche vorgenommen worden.
    »Und in deinem Fall?«, fragte Nino leise. »Glaubst du, dass sie mit dir auch so etwas gemacht haben?«
    »Womöglich.«
    »Komm, wir fahren nach Sainte-Félicité und nehmen den Burschen in den Schwitzkasten, bis er auspackt.«
    »Nein, wir haben nicht einmal den Ansatz eines Beweises. Ich möchte nicht, dass er mich mit ein paar Anrufen noch mehr in Misskredit bringt.«
    »Was hast du vor?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie wandte sich zu Nino um.
    »Auf jeden Fall fühle ich mich bei dir in Sicherheit. Danke.«
    »Ist alles okay? Sollen wir ein Bier trinken gehen?«
    »Das würde ich gerne … aber ich habe noch ein Problem zu regeln.«
    Cyrille erzählte dem Krankenpfleger von der albtraumartigen Nacht, die sie hinter sich hatte.

28
     
    Vor der Klinik blieb sie kurz stehen. Zum ersten Mal in ihrer Laufbahn hatte Cyrille den Eindruck, nur eine Rolle zu spielen: die der Leiterin des Zentrums Dulac. Sie war unkonzentriert. Ihre Gedanken schienen auf einer riesigen Welle dahinzurollen, die ans Ufer schlug und dann wieder zurückwich. Ein Wort tanzte vor ihren Augen und hallte in ihren Ohren wider: »Versuche«. Diese Verbrecher hatten in Sainte-Félicité an mindestens zwei Patienten – Julien Daumas und Clara Marais – Medikamente getestet. Und beide hatten eindeutige Schäden zurückbehalten.
    Cyrille bohrte den Nagel des Zeigefingers in den Daumen, sodass sich die Wunde erneut öffnete, und leckte den Blutstropfen ab. Ihren Kollegen gegenüber musste sie sich normal verhalten, ihnen etwas vorspielen, bis alles wieder in Ordnung wäre. Aber wie sollte sie das machen,

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