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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Stewardess zu. Deren Kollegin mit dem kurz geschnittenen, roten Haar telefonierte. Cyrille dachte an Marie-Jeanne. Sie war ihr nicht böse. Benoît war ihr Onkel, wie konnte sie ihr da vorwerfen, dass sie ihn nicht hatte belügen wollen. Die Corona von Caudry, das Tüllfest, der Karneval, die Riesen und die Narren mit ihren Schellen. Cyrille zuckte zusammen, für den Bruchteil einer Sekunde waren ihr die Augen zugefallen, und aus den Tiefen ihrer Erinnerung waren die Bilder aus ihrer Kindheit aufgetaucht. Schnell vertrieb sie diese wieder und bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, um wach zu bleiben. Die rothaarige Stewardess hatte jetzt aufgelegt und griff zum Mikrofon.
    »Madame Cyrille Blake wird gebeten, sich umgehend am Abflugschalter zu melden.« Cyrilles Schock wurde durch die Watteschicht gemildert, die sie seit ein paar Minuten umhüllte. Trotzdem erschauderte sie von Kopf bis Fuß. Benoît wollte sich nicht geschlagen geben. Sie zwang sich, aus der Schlange zu treten und bei der Stewardess, die sie mit einem professionellen Lächeln empfing, vorzusprechen.
    »Ihr Mann ist im Air France Büro in der Abflughalle, und er hat gebeten nachzusehen, ob es Ihnen gut geht. Er befürchtet, ein Schwächeanfall könnte Sie daran hindern, den Flug anzutreten. Wir müssen uns überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«
    Cyrille setzte ihr schönstes Lächeln auf und zwang sich, die Augen offenzuhalten.
    »Mein Mann ist ein Hypochonder, und da ich Ärztin bin, neigt er dazu, überall Krankheiten zu vermuten.«
    Sie sprach langsam, ihr Mund war pelzig, ihre Zunge schwer.
    »Ich habe ihm vorhin gesagt, dass ich etwas müde bin, das hätte ich besser nicht tun sollen. Es ist nicht das erste Mal, dass er so etwas macht. Er hasst Flugzeuge und hat darüber hinaus immer Angst, ich könnte irgendeine Krankheit ausbrüten. Ich kenne das schon. Ich muss zu einem Kongress, und er versucht mal wieder alles, damit ich bei ihm bleibe.«
    Die rothaarige Stewardess sah sie eine Weile an, musterte die Passagierin genau, um nicht später an Bord Probleme zu bekommen.
    »Sie wissen ja, Männer sind wie Kinder«, fuhr Cyrille fort, »und meiner ist fünfundzwanzig Jahre älter als ich, da ist es noch schlimmer.«
    Sie appellierte an die weibliche Solidarität. Die Stewardess nickte lächelnd.
    »Sie können einsteigen. Ruhen Sie sich aus.«
    Cyrille nahm ihre Bordkarte und bekam angesichts der letzten Kontrolle einen wahren Energiestoß. Die Gefahr war gebannt. Sie seufzte vor Erleichterung.
    Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, was eigentlich geschehen war. Benoît wusste etwas über ihre Vergangenheit und versuchte, ihre Abreise zu verhindern! Sie nagte an ihrer Lippe. Er ist total ausgerastet, aber was will er mir verheimlichen? Über dieses Problem musste sie nachdenken, doch im Moment war sie dazu nicht in der Lage. Sie konnte sich nicht länger als eine Minute konzentrieren. Unzusammenhängende Bilder bombardierten ihren virtuellen Kortex, und sie hatte eigenartige Assoziationen und Phantasievorstellungen. Sobald sie ihren Sitz erreicht hatte, schloss sie den Sicherheitsgurt, zog mit letzter Kraft ihr iPhone aus der Tasche und berührte auf dem Touchscreen das Icon für »E-Mail«. Sie fühlte sich immer entspannter, fast euphorisch, und ihre kognitive Wahrnehmung begann sich zu beschleunigen, ihre Gedanken überschlugen sich, waren aber ohne jeden Sinn. Im Halbtraum drückte sie auf »neue Nachricht«.

30
     
    Der Posteingang des PC gab eine Art Klingelton von sich, der Tony beim Einrichten seines Web-Accounts gefallen hatte. Die Nachricht war für Nino bestimmt. Der Absender war unten rechts auf dem Bildschirm vermerkt: »C. Blake«, ohne Betreff. Tony knabberte sein Sesam-Grissini zu Ende. Nino war ausgegangen, um zusammen mit dem gesamten sizilianischen Klan im Restaurant den Geburtstag seines Vaters zu feiern. Tony war nicht eingeladen worden. Es sei noch »zu früh«, ihn der Familie vorzustellen, so sein Gefährte. Nach zwölf Jahren!
    Auch gut. Wenn es darum ging, seine Beziehung zu Nino – die schönste Geschichte, die er je erlebt hatte – zu erhalten, war Tony der geduldigste und nachsichtigste Mensch schlechthin. Er liebte Nino, nicht seine Familie. Sizilien war ihm gleichgültig. Das Glück im Alltag war mehr wert als alle Etnas der Welt. Er nahm einen Schluck von seinem Vitamin-Cocktail und pustete die Sesam-Körnchen von der Tastatur. Und wenn es etwas Wichtiges war? Nino würde erst in drei oder vier

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