Begraben
Amnesie litten. Trotzdem bemächtigte sich ihrer ein beängstigender Gedanke. Sie setzte alle Hoffnungen auf diesen alten Mann, der seinen Zenit längst überschritten hatte. Das war weder klug noch rational. Sie riskierte eine Enttäuschung, die ebenso groß sein könnte wie ihre Hoffnung. Sollte sie zu keinem Ergebnis kommen, würde sie nach dem Kongress nach Paris zurückkehren und sich von Muriel behandeln lassen. Und wenn sie mit Benoît unter einer Decke steckte? Sie weigerte sich, auf diese zaghafte innere Stimme zu hören und sich der Paranoia hinzugeben. Was sollte Muriel damit zu tun haben, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn … Der Angriff ihres Mannes hatte jedenfalls den Vorteil gehabt, sie in ihrer Entscheidung zu bestärken. Ich muss mit allen Mitteln versuchen, die Erinnerung wiederzuerlangen . Und er wird endlich ausspucken müssen, was er weiß. Ohne weiter nachzudenken, griff sie zum Telefon, wählte seine Nummer und wartete. Es klingelte. Dann ertönte die schwerfällige Stimme ihres Mannes.
»Cyrille? Wo steckst du, um Himmels willen?«
Die junge Frau erkannte an seiner schleppenden Sprache sofort, dass er sich am Vorabend betrunken hatte.
»In Bangkok«, antwortete sie knapp.
»Im Hilton?«
»Nein.«
Benoît wurde sanfter.
»Mein Liebling, du musst jetzt vernünftig sein und zurückkommen.«
»Deshalb rufe ich dich nicht an, Benoît. Ich möchte die Wahrheit wissen.«
»Wovon sprichst du?«
Cyrille klemmte sich den Hörer ans Ohr und presste ihren Mund auf das Mikro.
»Warum soll ich die Vergangenheit ruhen lassen und nicht mehr daran rühren. Was weißt du?«
Er schwieg, dann antwortete er:
»Ich verstehe deine Frage nicht.«
Cyrille erwiderte mit tonloser Stimme:
»Am Flughafen vor der Passkontrolle, bevor du mir eine Spritze verpasst hast wie … einem Tier … warum hast du das dort gesagt? Was weißt du?«
»Beruhige dich, Cyrille.«
»Ich bin völlig ruhig.«
»Sag mir, wo du bist.«
»Antworte mir.«
Benoît räusperte sich.
»Ich weiß, dass du momentan sehr aufgeregt bist, aber ich verstehe deine Frage nicht.«
»Ich möchte die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit ist, mein Liebling, dass du Ruhe brauchst.«
»Was ist vor zehn Jahren passiert?«
Wieder Stille am anderen Ende der Leitung.
»Warum hast du gesagt, ich soll die Vergangenheit ruhen lassen«, insistierte sie.
Erneutes Schweigen.
»Cyrille, ich versuche nur, dich zu warnen.«
»Wovor?«
Benoît seufzte.
»Wenn sich dein Gedächtnis an bestimmte Dinge nicht erinnern will, solltest du das vielleicht akzeptieren. Es ist möglicherweise eine Art Schutz, den dein Gehirn ausübt, um dein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.«
Cyrille sank aufs Bett, ihr Herz begann wild zu schlagen.
»Was könnte mein Gedächtnis denn vor mir verbergen wollen?«
»Wahrscheinlich etwas, was dein Bewusstsein nicht ertragen würde … wie bei … Astor.«
Cyrilles Kehle schnürte sich zusammen. Benoît spürte, wie sich die Bresche öffnete, und hieb hinein:
»Bedenke die möglichen Konsequenzen, bevor du einen Weg einschlägst, auf dem es womöglich kein Zurück gibt. Hörst du mich? Unwissenheit ist in bestimmten Fällen vielleicht besser als die brutale Realität.«
Cyrille wurde klar, dass sie nichts erfahren würde. Sie versuchte es an einer anderen Front.
»Und was ist mit Julien Daumas, kennst du ihn?«
»Aber nein, ich bitte dich.«
Cyrille schüttelte den Kopf, ihr Mann log.
»Wirst du zurechtkommen?«, fragte Benoît.
»Ja«, antwortete sie knapp.
»Gut. Ich rufe dich in ein paar Stunden wieder an, einverstanden?«
»Ja, ist gut.«
Sie legten beide gleichzeitig auf. Cyrille ließ das Telefon sinken und stand auf.
Sie musste dieses Zimmer schnellstens verlassen, sich mit simplen Dingen beschäftigen, den Lift nehmen, ins Erdgeschoss hinunterfahren, am erstbesten Stand stehen bleiben, um sich ein Schälchen pad thai und Hühnerspieße zu kaufen. Einige Einkäufe tätigen. Erst dann würde sie weiter nachdenken.
*
Benoît Blake war fünfundsechzig Jahre alt und befand sich offiziell im Ruhestand. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus, denn er hatte den Posten eines emeritierten Professors am Institut Pasteur inne und außerdem ein Büro im Collège de France. So erging es alternden Forschern. Auch wenn sie im öffentlichen Dienst beurlaubt wurden, hängten sie ihren Beruf nicht an den Nagel. Sobald er wirklich weniger Pflichten wahrzunehmen hätte, würde er sein viertes Buch
Weitere Kostenlose Bücher