Begraben
Stunden heimkommen. Tony schnüffelte nie in den Angelegenheiten seines Freundes herum, hier aber ging es um Cyrille, die endlich ein Lebenszeichen schickte. Er öffnete die E-Mail, las sie und beschloss, Nino anzurufen.
»Ähm … tut mir leid, dich zu stören.«
Nino hatte beim zweiten Klingeln abgehoben.
»Kein Problem. Was ist los?«
Nino versuchte, leise zu sprechen, was bei dem Lärm ringsumher unmöglich war. Tony stellte sich ihn, umgeben von der ganzen Sippschaft, vor – seine drei Schwestern, sein Bruder, seine Onkel und Tanten, seine Eltern, die er nur von Fotos her kannte – beim Couscous »Chez Momo« in Saint-Maur.
»Du hast gerade eine E-Mail von Cyrille bekommen. Ich habe sie geöffnet und glaube, es ist wichtig.«
»Okay, lies sie mir bitte vor.«
Tony betonte jede Silbe.
»Muss fliehen. Mein Mann durchgedreht. Will mich einsperren. Fliege nach Bangkok.«
Nino hielt sich mit der freien Hand das Ohr zu.
»Wie bitte?«
»Ich wiederhole: Muss fliehen. Mein Mann durchgedreht. Will mich einsperren. Fliege nach Bangkok.«
Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann rief Nino:
»Verdammt … warte. Nein, Mama, ich will nichts mehr, danke. Ist das alles?«
»Wie?«
»Ist das alles?«
»Sprichst du mit mir?«
»Ja, natürlich.«
»Nein. Sie überspringt mehrere Zeilen, und dann heißt es: ›4GR14 hat mich umgebracht‹ mit einem großen zwinkernden Smiley.«
»Ein Smiley? … Warte eine Sekunde. Mama, ich habe gesagt, ich will nichts mehr, ich bin pappsatt und kann nicht mehr. Entschuldige Tony. Und das ist alles?«
»Ja …«
»Hat sie getrunken oder was? Ich spreche nicht von dir, Mama.«
»Was hat dieses Kauderwelsch zu bedeuten?«, fragte Tony.
»Kein gutes Zeichen.«
»Wann kommst du zurück?«
»Später.«
»Ich liebe dich, Schätzchen.«
»Okay, also dann bis später.«
Tony legte auf und betrachtete lächelnd den Hörer.
31
13. Oktober, 14 Uhr, Bangkok
Als sie aus dem klimatisierten Taxi stieg, setzte Cyrille ihre Sonnenbrille auf. Die feuchte Luft und die Hitze legten sich wie eine klebrige Masse auf sie. Sie hatte sich von dem Taxifahrer an der Khao San Road absetzen lassen. Hier, wo Rucksacktouristen aus aller Welt auf der Durchreise haltmachten, hatte Marie-Jeanne ihr für die beiden ersten Nächte ein Hotel reserviert.
Da war sie nun.
Ein Schlag ins Gesicht.
Menschen jeglicher Herkunft, Hautfarbe und Sprache drängten sich bei westlicher Technomusik, die aus den Lautsprechern der durchgehend geöffneten Bars dröhnte. An den fensterlosen Fassaden blinkte Werbung: Nikon, Paradise Massage, Elephant Bar, Seven/Eleven. Mit Einbruch der Nacht würde diese von der Menge bevölkerte Straße das Flair des Times Square annehmen, nur noch wilder, ausgeflippter, sinnlicher, lärmender, verrückter. Schmutzig und düster war die Atmosphäre jedoch nicht. Das Sexviertel lag viel weiter südlich in Patpong.
Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab. Die Reihe blauer und roter Schirme auf beiden Seiten der Straße spendete den Verkäufern ein wenig Schatten, die hier T-Shirts, Schmuck, Nippes, Raubkopien von DVDs und allerlei sonstiges wertloses Zeug feilboten. Die Imbisswagen verströmten den Geruch von Suppe und Bratfett. Eine Frau mit spitzem Hut rührte gelbe Nudeln in heißem Öl. Sie warf eine Handvoll Koriander in den riesigen Wok. Die Tuk-Tuk, ortstypische Rikschas, bahnten sich hupend mühsam einen Weg durch die Menge. Hier hatte es niemand eilig.
Fasziniert von allem, was sie sah, kämpfte sich Cyrille voran. Sie war schweißgebadet, hatte Kopfschmerzen, und ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Ein großer Rastafari mit geröteten Augen bot ihr – preiswert – Ketten mit Buddhaköpfen und Bandanas an. Sie lehnte ab und ging weiter. Ihr Herz schlug im selben Rhythmus wie die Technomusik aus der Red Turtle Bar. Sie war auf der Flucht, anonym. Als sie das letzte Mal diese wahnsinnige Straße entlanggelaufen war, war sie zehn Jahre jünger und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens gewesen.
Erfüllt von nostalgischen Gefühlen, lief Cyrille mit ihrem Koffer noch ein Stückchen weiter. Ihr war klar, dass sie hier nichts verloren hatte. Ihr Zimmer im Hilton gegenüber dem Kongressgebäude im Zentrum der Millionenstadt war seit Monaten reserviert. Ein Zimmer mit allem Komfort, mit einem luxuriösen Wellnessbereich, einem Kingsize-Bett , Klimaanlage, Etagenservice, alles desinfiziert, mit makelloser weißer Bettwäsche und einem
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