Begrabene Hunde schlafen nicht
dazwischenstellen und das Gespräch so
fortsetzen können. Aber dann wären vielleicht Elise und ihre
anderen Freundinnen gekommen und hätten mich gegen ’s
Schienbein getreten, mir Makronen ins Gesicht geworfen und
Pfefferminzlikör auf mein Hemd gespritzt. Und das hätte mir
nicht gefallen. Ich hätte Aquavit vorgezogen.
39
Marit Johansen saß da wie eine Art Wiederholung von Freitag
abend, als ich ins Wohnzimmer kam. In ihrem Glas war Rotwein, auf dem Tisch stand eine offene Flasche, auf dem Schoß
hielt sie ein Buch, und der CD-Player spielte Schubert.
Als ich hereinkam, dämpfte sie die Musik mit Hilfe der Fernbedienung, schlug das Buch zu und sah mich ernst an.
»Setz dich hin, Varg. Ich muß dir was erzählen.«
Sie schob mir ein leeres Weinglas hin, füllte es mit Rotwein
und stellte die Flasche vorsichtig wieder ab. Ihre Augen waren
rot gerändert, die Haut durchsichtig, und ihre Hand zitterte
sichtlich.
Ich sah sie an. »Ist etwas passiert?«
Sie kämpfte deutlich darum, die Kontrolle zu behalten.
Ich strich ihr leicht über die Wange. »Du hast geweint.«
»Es ist meine Schuld, daß sie dich überfallen haben.«
»Du meinst …«
»Er heißt Amir.«
»Äh, wer?«
»Es war – Eifersucht.«
»Hier auch?«
Ihre Zähne schimmerten hellblau vom Rotwein. Schubert trat
in eine dunkle Mondphase ein, mit einem Cello von bodenloser
Tiefe. »Ich dachte es mir, als du den Wagen erwähntest. Ich
habe mit ihm geredet. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Es war also jemand, den du kanntest?«
Sie lächelte traurig und nickte. »Ich werde dir alles erzählen,
so einfach wie möglich. Wir sind zusammen aufgewachsen, in
Bøler. Nach der Realschule – gingen wir miteinander. Wir
waren in derselben Klasse. Als wir mit der Schule fertig waren,
fing er an zu arbeiten, im Geschäft seines Onkels, einem Kolonialwarenladen in der Lekkegate. Ich hatte ein paar Aushilfsjobs, bevor ich bei der Vermittlung anfing, und wir – haben uns
auseinandergelebt. Er konnte es nicht akzeptieren.«
»Ihr wart richtig zusammen?«
Sie nickte. »Mhm. Vier, fast fünf Jahre. Er war furchtbar
verletzt. Griff mich an.«
»Physisch?«
»Nein, nein. Er sagte, er habe das Gefühl, daß ich ihn wegen –
seiner Hautfarbe verlassen hätte. Aber das stimmte nicht! Die
ganzen Jahre, die ich mit ihm zusammen war, hab’ ich nicht eine
Sekunde über seine Hautfarbe nachgedacht, für mich war er
immer einfach nur – Amir, mit dem ich aufgewachsen war. Ich
habe ihm sogar hinterher – er und ein paar Kumpels bekamen
Ärger, wurden verklagt, weil sie ein Auto ausgeschlachtet und
die Teile verkauft hatten. Ich habe ihm einen Anwalt besorgt,
der ihn freibekommen hat.«
»Einen Anwalt? Und wen?«
»Asbjørn Hellesø.«
»Sag mal – gibt es in Oslo keine anderen Anwälte?«
»Er sitzt eben in der Geschäftsführung des Aushilfsbüros. Ich
war eine Zeitlang Vertreterin der Angestellten. Außerdem wurde
er mir empfohlen!«
»Na gut, okay. Aber wie lange ist es her, daß du mit ihm
gebrochen hast?«
»Acht, neun Jahre, Varg! Und er hat die Hoffnung immer noch
nicht aufgegeben. Ich habe ihm immer wieder gesagt, daß er es
nicht persönlich nehmen soll, aber daß es für immer vorbei ist,
daß er sich eine andere suchen soll. Als ich das letzte Mal mit
ihm sprach, habe ich geradeheraus gesagt, daß ich einen anderen
habe, daß er mich in Ruhe lassen soll. Verstehst du?«
»Das versteh’ ich.«
»Er muß dich für …« Sie unterbrach sich selbst. »Für den
anderen gehalten haben. Als sie dich in der Stadt überfallen
haben. Sie müssen gesehen haben, wie du hier ein und aus
gingst. Sie haben dich verfolgt und beschlossen, sich an dir zu
rächen – an mir – an uns allen! Verstehst du?«
»Ja, ja, ich verstehe.«
»Aber bitte, Varg, geh nicht zur Polizei mit seinem Namen.
Sie haben ihn schon in der Kartei, vom letzten Mal. Ich bin
heute zu ihm gefahren, ich habe mit ihm geredet, ich glaube, er
hat jetzt begriffen – endlich –, welche Fehler er gemacht hat. Als
ob dieser Überfall der letzte Tropfen gewesen wäre.« Ihre
Augen liefen plötzlich über, und ihre Lippen zitterten hemmungslos.
Ich strich mir vorsichtig über die Schrammen im Gesicht.
»Dann war es jedenfalls nicht umsonst.«
»Nein.« Sie streckte die Hand aus, strich mir auch über das
Gesicht, ließ die Hand zwischen Hals und Schultern liegen und
schmiegte sich an mich.
Sie löste sich in meinen Armen auf, weinte mit langen, tiefen
Schluchzern und
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