Begrabene Hunde schlafen nicht
schüttelte sich wie in einem Krampf.
Ich hielt sie fest an mich gedrückt, als sei sie ein kleines Kind,
streichelte ihr über den Rücken und murmelte: »Na komm, ist ja
nicht so schlimm, es ist jetzt vorbei, Marit … Hmmm?«
Sie weinte lange. Irgendwo in ihr war ein Damm gebrochen,
und sie hatte große Reservoirs gehabt. Als sie sich endlich
beruhigt hatte, sah sie mit tränennassem Gesicht zu mir auf,
streckte sich und küßte mich.
Es war ein dicker, rotweingetränkter Kuß, süß-sauer und saftig
wie ein offener Pfirsich. Er pflanzte sich wie ein rieselnder
Frühlingsbach von meinen Lippen zu meinen Leisten fort, wo er
eine allzu schnelle Reaktion hervorrief, die meinen Oberkörper
vor Schmerz nach vorn klappen ließ. »Oh, Schscheiße …«
Sie setzte sich auf und sah mich erschrocken an. »Tut es so – ich wollte nicht …«
Ich knackte Nüsse mit den Backenzähnen, während ich eine
gequälte Entschuldigung hervorpreßte. »Gegen die pawlowschen Reflexe kann man nichts machen. Ich glaube, der Teufel
persönlich hat sich da unten festgebissen.«
»Du solltest vielleicht einen Eisbeutel auflegen …« Sie machte
eine Bewegung.
»Dann bin ich auf keinen Fall mehr sonderlich kommunikativ.«
Noch immer war ihr Gesicht, waren Augen und Mund sehr
nahe, so nahe, daß ich Probleme hatte, den Blick zu konzentrieren. »Ich habe daran gedacht, was du neulich abends gesagt hast.
Über den Kuß. Könntest du dir nicht vorstellen, mir noch einen
Brief zu schicken? Einen langen.«
»Ich weiß nicht, ob ich Geld für das Porto habe.«
Sie kam noch etwas näher. »Ich kann bezahlen.«
»Mmm?«
»Also, wenn ich dich vorwarne und sage, daß in einer Sekunde
…«
Ihre Lippen waren einen halben Zentimeter von meinen entfernt. Ich spürte die Wärme ihrer Haut, den Rotweinatem, spürte
physisch ihre Worte, die wie Luftblasen an meinem Mund
zerplatzten.
»… in einer Sekunde also …«
Wenn Augen so nahe kommen, werden sie zum Weltraum.
Man braucht seine eigenen nicht einmal zu schließen, um unter
den Sternen zu segeln.
»… werde ich dich …«
Aber ein Sauerstoffnachschub kann nützlich sein.
» … küssen.«
Lippen wie tautropfende Rosenblätter, die Zungenspitze wie
eine feuchte Hummel dort unten umherschwirrend, das Spüren
der Poren auf ihrer Zunge, wie Blütenstaub an meinen eigenen,
und eine langsam anwachsende Wärme im Körper, wie Ringe in
einem nachtdunklen Waldsee; schmerzstillend, beruhigend, lindernd.
Lange.
So lange, daß ich glaubte, alles sei zu Ende, die Zeit stünde
still und alle Dimensionen lösten sich auf.
Sv-pp.
»Und außerdem wird man davon nicht schwanger«, flüsterte
sie.
Unsere Blicke küßten sich wie Schwalben mit Regen auf den
Flügeln, und wir zogen uns gesittet zurück, versteckten uns hinter unseren Gläsern, tranken stumm, benommen, als hätten wir
vergorenen Honig in uns aufgesogen.
Schubert war verstummt, aber die Welt hatte wieder begonnen,
sich zu regen. In meinem Kopf hatte eine Jerome-Kern-Melodie
zu summen begonnen: A fine romance … Sie lächelte schief.
»Tat das gut?«
»Mhm.«
»Brauchst du den Eisbeutel noch?«
»Ich glaube, ich nehme statt dessen ein Bad.«
»Und du willst immer noch nicht, daß ich – dir den Rücken
schrubbe?«
»Ich glaube, das wäre nicht – schlau.«
»Na gut. Aber komm mir nachher nicht und sag, du hättest
nicht die Chance gehabt.«
»Nein.«
»Und bevor du fährst, erinnere mich daran, daß ich dir ein
Führungszeugnis schreibe, das du mit nach Bergen zu deiner
Freundin nehmen kannst. Oder bekommt sie auch nicht mehr als
Küsse?«
»Äh, doch. Aber wir kennen uns schon so lange.«
»Aber wir kennen uns schon so lange«, äffte sie mich nach.
Dann stand sie auf. »Dann will ich mich nur erst fertig machen, damit du das Bad für dich allein hast – hinterher.« Sie
ging zur Tür.
»Du … Marit?«
»… ja?«
»Danke.«
Ich nickte ihr ein Lächeln zu, und sie parierte es geistesgegenwärtig mit einem von ihren.
Ein paar Minuten später rief sie: »Jetzt ist frei! Gute Nacht!«
Ich leerte das Weinglas, ging ins Bad, ließ Wasser in die
Wanne laufen und zog mich behutsam aus.
Während das Wasser strömte und es in den Rohren rauschte,
hörte ich von weit her, wie sie draußen auf dem Flur eine Nummer wählte. Aber ich hatte keine Ahnung, wen sie anrief, und
ich hörte nicht, was sie sagte.
40
Am nächsten Morgen brach ich früh auf. Nachdem ich in
Hellesøs Büro angerufen hatte, fuhr ich dort vorbei und holte
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