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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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auf den Tisch gelegt.
    Herrgottnochmal, dauerte das lange. Es war wie ein Film in Zeitlupe. Ein Fläschchen mit einem stark riechenden Zeugs wurde entkorkt.
    »Setzt du dich mal hierhin?«
    Der Stuhl wurde ans Fenster geschoben. Mutter fasste Beer an der Schulter, führte ihn hin und drückte ihn sanft auf den Stuhl.
    »Den Kopf ein bisschen mehr nach hinten. So, ja.«
    Die kühle Hand des Doktors auf seinem Gesicht. Ein nasser Wattebausch bewegte sich über die Pflaster. Krankenhausluft im Zimmer. Ja, jetzt lösten die Finger den Verband. Die Haare der Augenbrauen blieben hängen und das tat weh.
    »Hm«, murmelte der Doktor.
    Das konnte alles bedeuten und Beer hielt den Atem an. Er musste auf eine Reaktion von Mutter achten. Wenn sie erschrak und irgendetwas ausrief, wenn ihre Stimme zitterte, dann bestand kein Zweifel mehr, dass er stark entstellt war. Stand sie denn immer noch schräg hinter ihm? Hatte sie noch nichts gesehen?
    »Hm.«
    Kühle Finger hoben die rechte Augenbraue etwas an. Da konnte Beer nicht länger an sich halten: »Und?« In diesem einen kleinen Wort lag die Angst langer Wochen.
    »Die Wunden sind schön verheilt.«
    Mutter kam näher. Beer fühlte ihre unruhige Hand auf seiner Schulter, als sie sich über ihn beugte. Dann ihre Stimme. »O ja!«
    Zwei Worte nur, aber sie besaßen einen befreienden Klang. »Wie sieht es aus?«
    »Wirklich gut, Beer«, sagte der Doktor. »Wir dürfen recht zufrieden sein. Die Narben sind noch ein bisschen rot, aber das vergeht ganz von selbst.«
    »Bin ich . . . Ist es . . . Sehe ich nicht schrecklich aus?«
    »Gar nicht«, sagte der Doktor und packte seine Sachen ein.
    »Wirklich nicht, Mutter?« Beinahe krampfhaft verlangte Beer absolute Gewissheit.
    »Nein, wirklich nicht!« Mutter kämpfte gegen das bedrückende Gefühl, dass sie die Augen ihres Sohnes nie mehr sehen würde. Sie biss sich auf die Lippen. »Es sieht überhaupt nicht schrecklich aus.«
    »Wie denn? Sag mir’s genau!«
    »Tja, du siehst aus wie jemand mit geschlossenen Augen. Ganz normal.«
    »Nicht . . . abstoßend?«
    »Bestimmt nicht«, lachte der Doktor. »Du denkst doch nicht etwa, dass im Krankenhaus Pfuscher arbeiten?«
    »Nein, das nicht, aber . . .«
    »Glaub mir, Beer, die Wunden sind gut verheilt und bald ist nichts mehr davon zu sehen.«
    »Brauche ich keine dunkle Brille zu tragen?«
    »Nein.«
    »Gott sei Dank«, flüsterte er und die krampfhafte Spannung machte einem Gefühl der Erleichterungund Dankbarkeit Platz. Jetzt, da der Verband endlich abgenommen war, hatte er das Gefühl, dass ihm sein Gesicht wiedergegeben worden war.

6
    Wenn man blind ist, wiegen die Worte, die man hört, doppelt schwer. Das hatte Beer zuerst im Krankenhaus erfahren, als Schwester Annie anstelle von Schwester Wil gekommen war. Welch ein Unterschied zwischen ihren Stimmen!
    Seither hatten Worte und Stimmen immer mehr Bedeutung bekommen. Spiegelten sie nicht die Persönlichkeit, den Charakter, die Seele eines jeden Menschen wider?
    Wenn jemand mit ihm sprach, sah Beer kein Gesicht mehr. Keinen lachenden oder verbissenen Mund; keine fröhlichen oder traurigen Augen; keine eifrig gestikulierenden Hände, die die Worte der Menschen umrahmen. Er musste ohne die Kenntnis ihres Äußeren mit ihnen sprechen, ohne zu wissen, ob jemand sich scheu, verlegen oder herausfordernd benahm. Das war ein großes Handicap. Doch Beer hatte entdeckt, dass er den Menschen dennoch eine äußere Gestalt zuschreiben konnte: indem er aufmerksam ihren Stimmen lauschte.
    Es gab eitle, aggressive und angeberische Stimmen; müde, traurige und erloschene Stimmen; und unzufriedene Stimmen. Es gab Stimmen, die einfach nur so daherredeten, und nachdenkliche Stimmen. Auf diese Weise besaß ein kleines Wort wie »ja« schon unendlich viele Bedeutungen: Es gab ein jauchzendes »Ja«, ein sachliches »Ja«, ein zögerndes »Ja«, ein tapferes »Ja«.
    Nicht die äußere, sondern die innere Welt gewann an Bedeutung und die Worte berichteten durch ihren Klang ganz genau über das Wesen jedes Menschen. Das sollte Beer an diesem Sonnabendnachmittag aufs Neue erfahren, als er mit Bennie und Goof auf den Fußballplatz ging, um ihrem Kampf gegen Victoria »zuzuschauen«.
    »Wie spät ist es jetzt?«, fragte Beer zum dritten Mal in einer halben Stunde.
    »Viertel nach eins«, sagte Vater.
    »Ob sie es vergessen haben?«
    »Ach was. Sie werden bestimmt gleich kommen.«
    Schon ein ganzes Weilchen ging Beer vor dem Haus auf und ab und wartete auf

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