Behalt das Leben lieb
ihr barbarischer Kriegsgesang. Wie in einem Film zogen die Bilder aus der Vergangenheit in Beers Vorstellung vorüber. »Wir kommen ganz schön voran«, sagte Tjeerd zufrieden. »Noch ein paar Mal und du bist in Geschichte genauso weit wie wir!«
»Du hilfst mir sehr!«
»Mir macht’s Spaß, weißt du das?«
»Hoffentlich ist deine Mühe nicht umsonst.«
Vater musste noch mit dem Direktor sprechen, wollte aber damit warten, bis Beer zeigen konnte, dass er den Platz in seiner alten Klasse verdiente.
»Wetten, dass du im September wieder bei uns sitzt?«
»Ich hoffe«, sagte Beer, aber sicher war er dessen noch lange nicht.Auch zu Hause bekamen die Tage allmählich einen festen Rhythmus. Beer hielt sich genau an den Plan, den er gemeinsam mit Vater und Mutter aufgestellt hatte. Er wollte alles tun, um in seine alte Schule zurückzukommen.
Morgens übte er das Braille-Alphabet. Nach einer Weile setzte sich Mutter zu ihm. Sie hatte sich in allerlei Anleitungen vertieft und versuchte, Beer so gut wie möglich zu helfen. Nach dem Kaffee gingen die Übungen auf der Schreibmaschine weiter.
Es gab Augenblicke der Ermutigung und der Verzweiflung. Manchmal wurde Beer wütend und rief, dass es so nicht ginge. Manchmal wieder schienen seine Fingerspitzen sensibler zu werden und er erfasste die Braille-Zeichen und -Tasten besser. »Ja, Beer, die letzten vier Buchstaben hast du ohne jeden Fehler getippt«, konnte Mutter dann ganz froh sagen, wenn ihre Geduld auch oft bis zum Äußersten auf die Probe gestellt wurde. »Merkst du, dass du die Lage der Tasten jetzt schon ein bisschen in die Finger kriegst?«
Beer war anderer Meinung. In seiner Verzweiflung machte er seiner Mutter manchmal Vorwürfe, dass sie ihn nicht klar genug unterwies. Meistens tat es ihm gleich darauf leid: »Entschuldige, ich hab’s nicht so gemeint«, rief er dann, und um Mutter für alle ihre Geduld eine Freude zu machen, strengte er sich nun besonders an. So quälten sie sich zusammen weiter und kämpften darum, unlösbar scheinende Probleme zu überwinden.
Gegen halb zwölf unternahm Beer immer einen kleinen Spaziergang. Fast mühelos fand er jetzt den Weg zur Parkbank. Da setzte er sich oft und wartete, bis der Kindergarten aus war. Dann erfüllten Stimmen den Park. Lärmende Stimmen. Aufgeregte Stimmen. Schüchterne Stimmen. Und Stimmen, für die das Unmögliche möglich wurde. Für Beer war es eine Quelle der Anregung, der Weite ihrer kindlichen Fantasie zu lauschen.
Da kamen sie wieder, die draufgängerischen Stimmchen. Beer saß regungslos auf der Bank und spitzte die Ohren. »Mein Vater ist so stark, dass er einen Zug aufhalten kann!« Die Stimme von Gijs, der immer hoch hinauswollte.
»Und mein Vater ist so reich, dass er einen ganzen Zug kaufen kann!« Die Stimme von Jan, der König werden wollte.
»Wenn dein Vater einen Zug kauft, dann hält ihn mein Vater an. Dann hat dein Vater nichts von dem Zug!«
»Dann kauft mein Vater eben zwei Züge«, sagte Jan plötzlich.
»Aber mein Vater kann auch zwei Züge anhalten!«
»Dann kauft mein Vater eben drei: Wenn dein Vater dann zwei Züge anhält, fahren wir mit dem dritten weg!«
»Dann stellt mein Vater seinen Fuß davor!«
»Das geht nicht«, rief Jan. »Er hat nur zwei Füße und mein Vater hat drei Züge!«
»Doch«, sagt Gijs im Brustton der Überzeugung.»Zwei Züge stoppt er mit den Füßen und den dritten hält er mit dem kleinen Finger an!«
Nun war es still. Jetzt wurde es schwierig.
»Und wenn mein Vater zehn Züge kauft?«, klopfte Jan vorsichtig auf den Busch.
»Dann hält mein Vater alle zehn fest. Mit jedem Finger einen!«
»Dann kauft mein Vater ein Flugzeug«, rief Jan, der wieder zum Angriff überging. »Er ist doch reich genug!«
»Dann greift mein Vater das Flugzeug einfach aus der Luft!«
»Das geht nicht! Das geht nicht! Er hat ja bloß zehn Finger und mit denen hält er die Züge fest!« Jans Triumph schien vollkommen.
»Das geht doch«, sagte Gijs langsam. Man spürte, dass er noch beim Überlegen war.
»Wie denn?«
»Mit seinen Zähnen«, sagte Gijs. »Er beißt das Flugzeug aus der Luft. Er ist stark genug!«
Jan, noch immer nicht übertrumpft, hatte seine Antwort schon fertig: »Dann kauft mein Vater einen Dampfer. Damit fährt er fort übers Meer!«
»Dann schmeißt mein Vater die zehn Züge in den Hafen. Dann kann dein Vater nicht durch!«
»Doch!«
»Kann er nicht!«
»Angeber!«
»Selber einer!«
So kamen sie an die Bank. Sie blieben
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