Behalt das Leben lieb
Reichsstraße nach Bussum gefahren. Und damals hatte Dikkie gesagt: »Seht ihr dort das große Gebäude?«
Über weit gestreckte Wiesen hinweg und zwischen alten Bäumen hatte Beer einen Gebäudekomplex gesehen.
»Das ist die Blindenanstalt«, hatte Dikkie gesagt und da waren sie auch schon vorbei.
»O Gott«, flüsterte Beer entsetzt. Alle seine unklaren Gefühle fügten sich jetzt wie die Teile eines Puzzlespiels zusammen. Plötzlich begriff er, was vor sich ging. Natürlich! Es gab keinen Zweifel mehr, Vater und Mutter waren zur Blindenanstalt gefahren.
Der Stock fiel ihm aus der Hand. Er merkte es nicht. Seine ganze Welt war zusammengestürzt. Es gab nur noch Dunkelheit, Verwirrung und ein Chaos von Gefühlen, in dem er sich nicht mehr zurechtfand. Wurde nun Wirklichkeit, was er so lange gefürchtet hatte? Er wusste nicht mehr aus noch ein.
Die Uhr des Studenten schlug in diesemMoment drei. In einer Anwandlung von Ratlosigkeit hatte Beer sie wegwerfen wollen. Doch diese drei hellen Schläge brachten Beer zur Besinnung.
In eine Blindenanstalt. Vielleicht war es für seine Zukunft das Beste! Vater und Mutter hatten sich bestimmt nicht von einem Tag auf den anderen dazu entschlossen. Vater und Mutter. Beer begriff nur allzu gut, wie schwierig dieser Schritt für sie gewesen sein musste. In Gedanken sah er sie beide, auf dem Wege zum Direktor, durch den großen Park gehen.
»Wir sind pünktlich«, sagte Vater. »Es ist genau drei.«
Mutter reagierte nicht. Sie blickte zu dem großen Parkplatz jenseits des Zaunes; zu den sorgfältig gepflegten Blumenschalen am Eingang der Anstalt; auf den schimmernden Park, der sich in Licht und Schatten unter den hohen Bäumen ausbreitete. Das alles würde Beer nie sehen, wenn . . . wenn er hier aufgenommen werden sollte. Mutter suchte an Vaters Arm ein bisschen Halt und Stütze.
Sie meldeten sich am Schalter des Portiers: »Wir sind beim Direktor angemeldet. Ligthart ist unser Name.«
»Ich zeig Ihnen den Weg.«
Vater hatte einen blinden Portier erwartet, aber es kam eine ältere Frau heraus und begleitete sie ein Stück.
»Sie gehen zwischen diesen Häusern durch.Dann über den Spielplatz. Rechts in der Ecke ist eine Tür. Da müssen Sie hin.«
Jetzt war es Vater, der Mutters Arm nahm. Er fühlte sich aufgeregt und nervös. Die nächste Stunde sollte über Beers Zukunft entscheiden. Aber stand nicht auch ein Teil ihres eigenen Lebens auf dem Spiel?
»Sieh doch«, flüsterte Mutter und verlangsamte ihre Schritte. Einige Kinder fuhren vor dem Hauptgebäude Rollschuhe. Ein junger Betreuer stand auf der Seite und passte auf. Von rechts kamen zwei ungefähr sechzehnjährige Jungen den Weg entlang. Der erste Junge trug eine dicke Brille. Der andere Junge ging hinter ihm und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt; auf diese Weise ließ er sich zur Tür eines Nebengebäudes führen. Bald würde wohl Beer hier entlanglaufen, geführt von einem anderen Jungen, der noch ein bisschen sehen konnte. Mutter drückte Vaters Arm etwas fester an sich.
Der Spielplatz. Sie gingen an einem Klassenzimmer vorüber, in dem ein Lehrer mit drei Kindern arbeitete. Mutters Blick fiel wie von selbst auf die Finger, die über die Seiten mit der Blindenschrift glitten: zuerst die Finger der linken Hand; dann übernahmen die Finger der rechten Hand das Lesen – immer vorausfühlend, was im Text folgte. So weit war sie mit Beer noch lange nicht.
Sie fanden die Tür und traten ein. Kurze Zeit später standen sie vor dem Direktor, einem Mann mit einem fröhlichen Gesicht. Gott sei Dank,dachte Mutter. Sie fand ihn gleich sympathisch. Er hatte ruhige, verständnisvolle Augen.
»Nehmen Sie Platz.«
»Danke.«
»Wir kommen wegen unseres Sohnes Beer«, sagte Vater und dann folgte Stück für Stück die ganze Geschichte.
Es war Viertel nach vier. Vater und Mutter hatten viele Fragen gestellt und der Direktor hatte alle Fragen geduldig beantwortet. Er hatte über die Anstalt und über den Unterricht für Blinde gesprochen: »Wir haben hier ungefähr 120 Kinder. Manche sind Externe. Sie schlafen und frühstücken zu Hause, weil die Eltern ihretwegen eine Wohnung in der Nähe unserer Anstalt genommen haben. Die meisten Kinder sind allerdings Interne. Sie fahren nur an den Wochenenden oder in den Ferien nach Hause.«
Vater hatte nach den verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten gefragt. Es gab eine Grundschule, eine Hauptschule, eine Ausbildungsstätte für Telefonisten und eine Haushaltsabteilung,
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