Behalt das Leben lieb
in der blinde Jugendliche kochen und nähen lernten. Es gab auch eine Realschule.
»Und es fängt natürlich immer mit dem Kindergarten an«, hatte der Direktor gesagt.
»Kommen die Kinder schon so jung hierher?« Mutter musste an die kleinen blinden Knirpse von vier oder fünf Jahren denken. Wie musste einem zumute sein, wenn man so kleine Kinderaus dem Elternhaus fort und in eine Blindenanstalt brachte.
»Je früher man mit dem Blindenunterricht anfängt, desto besser. Wissen Sie, wie lange es dauert, ehe man in Blindenschrift wirklich lesen, schreiben und rechnen kann?«
»Nein, nicht genau.«
»Mindestens drei Jahre. Und Sie zum Beispiel sind eigentlich schon zu alt, um es noch richtig zu lernen.«
Zu Vaters Erleichterung besuchten Kinder der Anstalt normale Oberschulen in Bussum. Nicht nur alle Lehrbücher, sondern auch Abzüge, die die Lehrer oft unerwartet für die Hausaufgaben oder für Wiederholungen austeilten, wurden von der eigenen Druckerei in Blindenschrift gedruckt.
»Aber wie ist es mit Mathematik und Physik?« In den vergangenen Wochen hatte sich Mutter oft gefragt, wie ein blindes Kind das je lernen konnte.
»Reliefzeichnungen«, hatte der Direktor erklärt. »Man macht das mit einem Rädchen auf Blindenschriftpapier, das auf ein Stück Gaze gelegt wird. Natürlich muss es spiegelbildlich gemacht werden, damit die Reliefzeichnung auf der erhabenen Seite des Papiers in der richtigen Form erscheint.«
»Wie ist das möglich«, murmelte Mutter, die in Mathematik nie besonders gut gewesen war.
»Es geht sehr gut. Einer unserer Schüler hat vorige Woche sein Abschlussexamen in Mathematik und Physik an der Universität Amsterdam bestanden.« Zu Recht klangen Stolz und Genugtuung inder Stimme des Direktor. Wer konnte ermessen, welche Schwierigkeiten bis zu diesem Abschlussexamen überwunden werden mussten? Offenbar konnten begabte Blinde jedes beliebige Studienfach wählen, zum Beispiel Sprachen, Jura, Geschichte, Psychologie. Schritt um Schritt gewannen Vater und Mutter Einsicht in die zahllosen Probleme, die bei der Erziehung blinder Kinder gelöst werden mussten. Viel Aufmerksamkeit wurde der Stärkung ihrer Willenskraft, ihres Selbstvertrauens, ihrer Ausdauer und ihres Mutes geschenkt.
»Und was machen die Kinder in ihrer Freizeit?«
»Wir haben hier mehrere Hobbyklubs. Und natürlich Spiele wie Monopoly und Mensch ärgere dich nicht, alles in Blindendruck.«
»Auch Sport?« Eine Frage von Vater, der wusste, dass dies für Beer sehr wichtig war.
»Ja, auch Sport. Judo, Reiten, Schwimmen, Gymnastik, Wandball.«
»Wandball? Was ist das?«
»Das wird in der Halle gespielt. Drei gegen drei: Man muss mit einem Ball die gegenüberliegende Wand erreichen, während die Gegenpartei es zu verhindern sucht. Im Ball ist eine Klingel. Die Spieler können also hören, wie der Ball rollt. Es wird gern gespielt und ist eine ausgezeichnete Form des Gehörtrainings.«
Wieder etwas, dachte Mutter, woran man sieht, was alles mit der Erziehung eines blinden Kindes zusammenhängt. War sie nicht naiv gewesen, alssie annahm, Vater und sie hätten dies alles allein schaffen können?
»Mit anderen Blindenanstalten organisieren wir auch Wettkämpfe. Manchmal gehen wir dazu nach Deutschland, Schweden oder England.«
Vater und Mutter sahen sich an. Beide waren sich nun darüber klar, dass es für Beers Zukunft nur eine Möglichkeit gab.
»Hätten Sie für unseren Sohn Platz?«
Der Direktor nickte.
»Wir hätten ihn so gern zu Hause behalten«, sagte Mutter leise. »Ihn so abzusondern . . .«
»Ich verstehe genau, was Sie meinen«, sagte der Direktor. Er hatte solche Gespräche schon ziemlich oft geführt. »Eigentlich müssten behinderte Kinder zusammen mit anderen Kindern aufwachsen und nicht isoliert werden. Leider gibt es diese Möglichkeit noch nicht.«
Und dann kam die wichtige Frage, die Mutter immerzu durch den Kopf gegangen war und schon lange auf Vaters Lippen gelegen hatte: »Was halten Sie für besser: Wenn ein Kind intern oder extern in der Anstalt ist?«
»Das hängt unter anderem von den Eltern ab«, sagte der Direktor vorsichtig. »Das Verhältnis der Menschen zu Blinden ist gestört. Blindsein ist nicht nur das Problem des Kindes selbst. Auch für die Eltern und Geschwister ist es eine Aufgabe. Viele Eltern verlieren bei der Erziehung ihre natürliche Sicherheit. Es gibt auch zu wenige Sozialarbeiter, die ihnen beistehen und sie begleiten. Sowerden trotz des guten Willens manchmal doch
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