Behandlungsfehler
sie entsteht und wie man sie eindämmen kann. Er zeigte ihr, wie sie mit Zahnseide und Zwischenraumbürstchen auch bis in die Nischen zwischen den Zähnen kommen konnte, riet ihr, sich eine Ultraschall-Zahnbürste anzuschaffen, und erläuterte ihr, wie man damit umgeht. So regelmäßig, wie sie früher zur Kontrolle ging, hat sie seither auch die professionelle Zahnreinigung machen lassen. Mit etwas Glück kann es perspektivisch gelingen, die Parodontitis zu stoppen und wenigstens die noch vorhandenen Zähne zu retten. Aber für zehn ihrer Zähne kam diese Maßnahme zu spät. Helene Vielmann brauchte nun eine Prothese. Idealerweise würden die fehlenden Zähne durch Implantate ersetzt werden
können. Da man bei ihr dafür den Kieferknochen wieder aufbauen müsste, wäre das eine schwierige Operation. Die Kassen übernehmen die Kosten für eine solche Maßnahme nicht. Bei meiner Mandantin stand eine Sinuslift-Operation an. Dabei wird versucht, die Zähne in der Kieferhöhle zu verankern. Allein für den Oberkiefer liegen die Kosten bei 15 000 bis 20 000 Euro. Frau Vielmann hätte dafür einen Kredit aufnehmen müssen: Zwar verdiente ihr Mann nicht schlecht, aber bei vier Kindern – die sich alle in der Ausbildung befanden – konnte die Familie sich solche großen Ausgaben nicht leisten. Und selbst wenn sie das Geld dafür zusammengebracht hätte, wäre es noch längst nicht gesagt, dass die Implantate tatsächlich festwachsen würden. So etwas kann glücken. Muss es aber nicht. Frau Vielmann brauchte zunächst dringend das Geld, damit sie sich diese Behandlung überhaupt erst leisten konnte.
Ich hörte Frau Vielmann damals mit gemischten Gefühlen zu. Ich selbst mag Zahnarzttermine ziemlich wenig und konnte mir gut vorstellen, wie zufrieden sie all die Jahre mit ihrem Zahnarzt gewesen war: Wer ist nicht froh, wenn er einmal wieder ohne größere Behandlung davongekommen ist. Aber die Idee, dass unter der regelmäßig kontrollierten Oberfläche ein solches Drama lauern könnte, war erschreckend. Für mich war klar, dass der Zahnarzt einen Fehler gemacht hatte: Da er die Parodontits diagnostiziert hatte, hätte er auch eine entsprechende Behandlung vornehmen müssen. Er hätte Frau Vielmann schon vor etlichen Jahren gezeigt haben müssen, wie sie durch sorgfältiges Putzen und professionelle Zahnreinigung ihre Zähne hätte retten können. Hätte, hätte. Hatte er aber nicht. Er hatte ihr nicht einmal klargemacht, dass es ein ernsthaftes Problem gab.
Im Sinne des Arzthaftungsrechts mussten wir aber noch einen Schritt weiterdenken und beweisen, dass dieser Fehler den Verlust der Zähne bewirkt hat – eine Frage der Kausalität. Hätte wirklich der Zahnverlust mit höchster Wahrscheinlichkeit vermieden werden können, wenn das gemacht worden
wäre, was dem zahnärztlichen Standard entsprochen hätte. Und da musste ich Frau Vielmann ganz klar sagen: Nein, das würden wir nicht nachweisen können. Die Chancen wären gut gewesen. Aber mit »höchster Wahrscheinlichkeit« ist mehr als das.
Wir mussten anders an die Sache herangehen. Vielleicht würde es gelingen, sich außergerichtlich zu einigen. Wenn nicht, müssten wir dem Zahnarzt einen groben Behandlungsfehler nachweisen – und er wiederum würde seinerseits beweisen müssen, dass die Zähne auch ausgefallen wären, wenn er bei Frau Vielmann eine ordentliche Prophylaxe betrieben hätte. Und das zu beweisen würde ihm nicht gelingen. Die Beweislast wäre umgekehrt. Ja, es hätte sein können, dass die Zähne auch dann ausgefallen wären. Aber »hätte sein können« reicht für das juristische Beweismaß nicht.
Frau Vielmann konnte von Glück reden, dass sie mit ihrer Prothese einigermaßen zurechtkam. Denn was danach folgte, war langwierig und mühsam. Mit akuten Schmerzen und den Zähnen weiterhin als Beweisstücke in ihrem Mund, hätte sie diese Phase nicht durchgestanden. Denn das erste Jahr verging damit, herauszufinden, wer eigentlich unser Gegner war. Normalerweise ist der Weg einfach: Ich hätte den Zahnarzt angeschrieben und mit seiner zuständigen Haftpflichtversicherung korrespondiert. Wir hätten versucht, uns außergerichtlich zu einigen. Aber welche Haftpflichtversicherung war in diesem Fall zuständig? Die Zuständigkeit richtet sich nach dem Zeitpunkt, zu dem der Fehler begangen worden ist. Aber zu welchem Zeitpunkt war das? Lagen bereits zu Beginn der Behandlung Befunde vor, auf die der Zahnarzt hätte reagieren müssen oder sind diese erst im
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