Behandlungsfehler
beurteilen sollte und sich sehr schwer damit tat, das Wort »grob« zu benutzen, obwohl der
Fall aus meiner Sicht ziemlich eindeutig war. Ursprünglich hatte er in seinem Gutachten erklärt, dass das Verhalten der Klinikärzte zwar einen Fehler darstellen würde, dieser aber kein grober Behandlungsfehler sei. Es sei für ihn verständlich, dass so ein Fehler passiert. Auch in der mündlichen Anhörung vor Gericht hat er das zunächst so wiederholt. Und dann war ich dran. Eindeutig hatte ich den Vorteil Ärztin zu sein. Da ich ein bisschen früher vor dem Termin vor Ort war und der gegnerische Bevollmächtigte ein bisschen zu spät kam, konnte ich kurz mit dem Sachverständigen plaudern, was ich häufig tue. Natürlich habe ich ihm gesagt, dass ich im Fachbereich der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde über den Hörsturz promoviert habe. Damit musste ihm klar sein, dass ich wusste, wovon ich spreche. Vielleicht hat ihn dieser Umstand ein wenig objektiver sein lassen. Ich weiß es nicht, im Ergebnis war es auch egal, denn nur darauf kam es an.
Ich fasste den Fall abstrakt, beschränkt auf das Wesentliche, zusammen und fragte: »Stellen Sie sich vor: Eine Patientin kommt mit einer Mittelohrentzündung und hohem Fieber zu Ihnen in die Klinik. Sie wissen nicht, ob es sich um eine bakterielle oder virale Infektion handelt. Also nehmen Sie Blut ab und bestimmen eine Bakteriologie. Am nächsten Tag liegen die Laborergebnisse vor. Sie deuten zweifelsfrei auf eine bakterielle Infektion hin. Wenn Sie dann kein Antibiotikum geben, das als einzig wirksames Mittel in so einer Situation gilt – würden Sie dann sagen, dass das zwar fehlerhaft, aber nicht unverständlich ist?« Und da hatte ich ihn. Da sagte er: »Nein. Das ist nicht verständlich. Das ist völlig unverständlich. Die Laborergebnisse waren eindeutig.« Und dann sagte er: »Aber vielleicht hat der Arzt die Laborergebnisse nicht gesehen.« Und ich erklärte, dass ich die ganze Zeit vermutete, dass er vergessen hätte es zu verordnen, weil es für ihn so selbstverständlich gewesen sein muss. Da sagt er: »Das glaube ich eigentlich nicht. Es muss einen Grund dafür gegeben haben, dass er das Antibiotikum nicht verordnet hat. Ich kann mir nur vorstellen, dass ihm die Laborwerte nicht vorlagen.«
Sachverständige versuchen oft zu verstehen, warum der Arzt dies oder jenes getan oder gelassen hat – auch wenn das Verhalten unverständlich ist, weil es eindeutig gegen das Einmaleins der Medizin verstößt. Sie versuchen, den Arzt zu entschuldigen. Dahinter steht meines Erachtens ein Missverständnis: Bei dem Begriff des »groben« Behandlungsfehlers denken die Sachverständigen an das Maß des Verschuldens, sie sehen den einfachen Behandlungsfehler als fahrlässig begründet – als etwas, das schon einmal passieren kann – und werten den groben Behandlungsfehler als vorsätzlich. Sie wollen den Arzt und ihren eigenen Stand schützen, und vermuten, dass es Gründe für dieses unverständliche Verhalten geben muss. Dabei geht es hier nicht um Vorsatz, nicht um grobes Handeln. Sondern es geht darum, dass eine bestimmte Behandlung aus medizinischer Sicht völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar ist und eigentlich so nicht passieren darf. Warum und wieso das passieren konnte, ist für uns unerheblich. Es geht nur um das Faktische. Der Arzt hat durch den groben Fehler die Unaufklärbarkeit des Kausalverlaufs zu verantworten. Für uns Juristen hat dieser »grobe« Behandlungsfehler eine wichtige rechtliche Konsequenz: Die Beweislast kehrt sich um. So viel zu den juristischen Fakten.
Bei Frau Vielmann lag ein Dreivierteljahr später das Gutachten vor. Obwohl der Sachverständige mittlerweile sein Rentenalter erreicht hatte – nicht immer treffen die Vorurteile zu – schrieb er darin: Was nütze die schönste Parodontaltherapie, wenn man nicht die entsprechende Prophylaxe mache. Das sei ein grober Behandlungsfehler. Ich war erleichtert. Er schrieb noch, dass bei korrekter Behandlung der Abbau des Kieferknochens meist gestoppt werden könne und der Knochen sich manchmal sogar regeneriere.
Das Gericht schlug im schriftlichen Verfahren einen Vergleich vor. Ich war nach Rücksprache mit meiner Mandantin einverstanden. Wer wusste schon, ob der Sachverständige während der mündlichen Verhandlung bei seiner im Gutachten
getätigten Aussage bleiben würde. Aber dem Anwalt der Gegenpartei war die Summe zu hoch. Welcher Betrag ihm denn vorschwebe? Das konnte er nicht sagen, so
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