Behandlungsfehler
nicht mehr. Und dann sagt er, fest überzeugt, zu mir: »Niemand hat mit mir gesprochen, gar keiner hat mir irgendwas gesagt.
Wenn man mir gesagt hätte, worauf ich mich einlasse, hätte ich das niemals gemacht!«
Später finde ich dann einen sechsseitigen Aufklärungsbogen mit handschriftlichen Bemerkungen in der Akte, den er unterschrieben hat. Er kann sich nicht mehr daran erinnern. Vermutlich hat er den Bogen nicht einmal gelesen, sondern einfach nur unterschrieben. Das verwundert nicht. Schließlich war er aufgeregt, weil er operiert werden sollte, und es geschah ganz viel auf einmal. Natürlich ging er hoffnungsvoll davon aus, dass schon alles ordnungsgemäß verlaufen, alles gut gehen würde. Andernfalls hätte er sich diesem Eingriff vermutlich gar nicht erst ausgesetzt.
Wenn ich beschlossen habe, die Angelegenheit, die der Mandant an mich herangetragen hat, zu übernehmen, so fordere ich also zunächst die Behandlungsunterlagen an. Das ist meistens unproblematisch, manchmal ist es schwieriger und ganz selten muss ich eben eine Klage auf Herausgabe der Unterlagen einreichen.
Wenn die Unterlagen da sind, folgt die Detektivarbeit. Da geht es um Laborwerte, um die Notizen der Pfleger, der Schwestern, um die Aufzeichnungen der Ärzte und inwieweit die Erinnerungen des Patienten zumindest ansatzweise dokumentiert sind. In dieser Phase bin ich mehr als Ärztin denn als Rechtsanwältin gefordert: Ich muss versuchen, aus den vielen kleinen Informationen ein Gesamtbild zu bekommen und die Brüche darin zu erkennen. Traumatologie, Orthopädie, Innere, Gynäkologie, Geburtshilfe, Dermatologie – das ganze Medizinstudium kommt dabei zum Tragen. Ich beherrsche die medizinische Terminologie und kann Operationsberichte, Arztbriefe und Befunde lesen. Das habe ich über die Jahre trainiert. Ich weiß, wo die Schnittstellen sind und wo ich genauer hinsehen muss. Von 300 Seiten Behandlungsunterlagen sind oft nur 40 für mich relevant. Ich muss wissen, um welche 40 es sich handelt. Manchmal ist es auch nur eine einzige Seite, die mir den weiteren Weg zeigt.
Auf dieser Grundlage baue ich mir einen Tatbestand: Ich beschreibe, was passiert ist und welche medizinischen Fragen sich daraus ergeben, die rechtlich bedeutsam sind. Dabei beziehe ich mich immer ganz konkret auf den Einzelfall. Ich frage also nicht:
»Liegt eine unterlassene Befunderhebung vor?«, sondern ich frage: »Hätte man am 12. März nicht diesen Befund erheben müssen, weil sich klinisch die folgenden Symptome herausgebildet hatten?« Mein Schwerpunkt ist der außergerichtliche Bereich.
Schadenersatz zu fordern ist einfach. Aber die dem Fall zugrunde liegenden Sachverhalte zu erfassen und auszuwerten – damit ich auf dieser Grundlage die Ansprüche meiner Mandanten konkret begründen kann –, darin liegt der Schlüssel zum Erfolg. Wenn ich diese Arbeit hinter mir habe, entscheide ich gemeinsam mit dem Mandanten unser weiteres Vorgehen.
Einmal meinte ein Arzt, nicht in der Lage zu sein, in seiner Praxis die Behandlungsunterlagen zu kopieren. Ich schlug vor, dass wir mit dem Scanner kommen. Heute ist das ja alles kein Problem mehr, die Dinger sind leicht. Der Arzt bestand aber darauf, die Unterlagen in einem Copyshop kopieren zu lassen. Dazu müssten wir ihn von der Schweigepflicht entbinden, damit er die Unterlagen an die Mitarbeiter des Copyshops weitergeben könnte. Und darüber hinaus müsste ich dann noch einen Vorschuss leisten, damit er seinem Geld nicht hinterherrennt. Mein Eindruck war, dass er das Ganze möglichst kompliziert machen wollte, damit wir die Lust verlieren. Aber mir war das egal. Wir haben alles getan, was er wollte. Mir ging es um die Unterlagen, um sonst nichts. Wir hätten natürlich auch darüber noch einen Rechtsstreit führen können. Aber es nützt nichts sich auf einem Nebenschauplatz in einen Krieg zu begeben, der Streit wäre lästiger gewesen als einfach nachzugeben. Hauptsache, ich erreiche mein Ziel auf möglichst kurzem Weg. Prinzipienreiterei finde ich dumm. Prinzipien müssen hinterfragt werden. Und es hilft nichts, auf seinen Prinzipien zu bestehen, wenn es um nichts Wichtiges geht. Ich habe den Vorschuss gezahlt und ihn gegenüber dem Mitarbeiter des Copyshops von der Schweigepflicht entbunden. Der Arzt hat sich gewundert. Aber dann konnte er nicht mehr anders, als mitzuspielen.
Medizinischer Dienst
Die gesetzlichen Krankenkassen unterstützten ihre Versicherten, wenn diese denken, dass sie falsch behandelt worden
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