Behandlungsfehler
dadurch weniger belastet. Die meisten Patienten sind bald nach der Operation schon wieder erstaunlich mobil – mit sehr positiven Folgen: Die Muskulatur erschlafft gar nicht erst, es kommt seltener zu einer Thrombose. Aber bei dem Zugang in den Bauchraum kann es auch einmal zu Schädigungen des Darmes oder sogar der Gefäße kommen, das ist eines der Risiken.
Diese dynamische Entwicklung als Gutachter zu berücksichtigen, ist nicht immer ganz einfach. Viel hängt von den technischen Möglichkeiten ab, mit denen der Gutachter als Arzt arbeiten kann. Manch neue Technik ist noch nicht flächendeckend verfügbar. Die Gutachter urteilen zuweilen nicht aus der eigenen Erfahrung heraus, sondern haben sich für ihr Gutachten theoretisches Wissen angelesen. Damit wird aber manchmal der Einzelfall zu wenig berücksichtigt, denn es steht nicht alles in den Lehrbüchern und es ist fast stets fraglich, ob der von dem Privatgutachter konstatierte Anspruch in einem gerichtlichen Verfahren auch nachgewiesen werden kann. Deshalb erkundige ich mich oft gerade in gerichtlichen Verfahren erst nach der persönlichen Erfahrung eines vom Gericht vorgeschlagenen Sachverständigen mit der Behandlungsmethode, die er bewerten soll, bevor ich ihn akzeptiere.
»Wenn Du auf zwei Mediziner triffst und beide sind gleicher Meinung, so ist einer von den beiden kein Arzt«, ist ein alter Witz, der jedoch die Lage recht gut beschreibt. Zuweilen ist es nur eine Frage, wie viele Gutachten der Mandant hat erstellen lassen, bis er eines in den Händen hält, in dem ein Gutachter dem Patienten attestiert, dass der Arzt fehlerhaft gehandelt hat. So einen Fall habe ich gerade abgeschlossen und es gibt sie immer wieder. Ich beurteile die Fälle unter Berücksichtigung der Gutachten und der
juristischen Spielregeln. Ich hinterfrage die Aussagen der Gutachter. Ärztin zu sein ist in diesem Gebiet von Vorteil. Häufig habe ich schon Ansprüche durchsetzen können, Verfahren gewonnen, ohne dass mir ein entsprechendes Gutachten vorlag. Und häufig habe ich Mandate abgelehnt, obwohl ein positives Gutachten auf meinem Schreibtisch lag, bei denen ich jedoch der Meinung war, dass ich einen Anspruch aus juristischer Sicht nicht würde durchsetzen können. Natürlich kann meine Einschätzung nicht als absolut angesehen werden, kann nicht als sicher gelten, aber wenn der Mandant mir nicht folgen möchte, so gibt es durchaus auch andere Rechtsanwälte, so wie es andere Ärzte gibt, an die er sich wenden kann.
Richt- und Leitlinien
Manchmal kommen Mandanten auch zu mir, die sich im Internet schlaugemacht und dort eine Leitlinie gefunden haben, die zu ihrer Krankheit passt. Sie sagen dann: »Da steht doch schwarz auf weiß, was der Arzt hätte tun müssen«, und erklären mir, wie ihr Arzt gegen Punkt B und D der Leitlinie verstoßen hat. Der Arzt möge ihnen mal erklären, warum er von diesem doch allgemein anerkannten und zugänglichen Verfahren abgewichen ist. Sie sind überzeugt, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Aber so einfach ist das nicht.
Es gibt zwar Richt- und Leitlinien, in denen steht, was der Arzt in welchem Falle tun sollte, aber das sind nur Handlungskorridore, Wegweiser. Die Ärzteschaft ist zwar nahezu orgiastisch darum bemüht, ihrer Medizin Normcharakter durch Richt- und Leitlinien zu verleihen in der Hoffnung mehr Rechtssicherheit zu haben, sie repräsentieren jedoch nicht unbedingt den ärztlichen Standard. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AMWF) hat solche Leitlinien in Kurz- und Langfassungen online gestellt. Sie wirken auf den ersten Blick wie Checklisten, die man nur abarbeiten muss, um einen Kranken wieder gesund zu machen. Aber es ist eben falsch anzunehmen, dass diese Leitlinien den ärztlichen Standard repräsentieren und es grundsätzlich einen Behandlungsfehler darstellt, wenn ein Arzt
davon abweicht. Irgendwie sagt uns schon unser Bauch, dass das richtig ist! Aber warum?
Leit- und Richtlinien wurden ins Leben gerufen, um Ärzten bei ihrer Entscheidung zu helfen, wie sie vorgehen, und um sie in ihrem Handeln sicherer machen zu können. Sie können den Facharztstandard repräsentieren, tun das aber nicht zwangsläufig. Die Listen helfen beim Orientieren und Argumentieren für den Regelfall. Aber sie nehmen die medizinischen Gutachten für den Einzelfall nicht vorweg. Vor allem aber führt das Abweichen von den Vorgaben der Leitlinie nicht ohne Weiteres zu einer Haftung.
In einem Urteil
Weitere Kostenlose Bücher