Behandlungsfehler
mir vor, wie es wäre, wenn wir jetzt zusammen ein Verfahren anstrengen würden. Dass wir uns mit dem Arzt außergerichtlich einigen könnten, hielt ich für unwahrscheinlich. Dafür war die Summe, um die es hier ging, zu hoch. Der Unterhalt für das Kind würde auf viele Jahre berechnet. Ohne ein rechtskräftiges Urteil lässt sich keine Versicherung darauf ein. Ein Gerichtsverfahren aber würde sich über Jahre hinziehen. Ich vermutete, dass dies Christoph Mahler mehr schaden als nützen würde.
»Ich wollte dieses Kind nicht!«, war der zentrale Satz, auf dem das Verfahren aufbauen musste. Das müsste er wieder und wieder belegen, müsste deutlich machen, dass dieses Kind für ihn eine unzumutbare Belastung darstellt – und das, während das Kind an seiner Seite aufwachsen würde.
Am Ende des Verfahrens wäre Flora vielleicht fünf, vielleicht sechs Jahre alt und längst Teil seines Lebens. Aber vor Gericht müsste er immer noch sagen, er habe sie nie gewollt. Ich fragte ihn, ob er das vertreten könnte? Oder ob nicht jedes Kind, egal wie die Vorgeschichte aussieht, ein Recht auf Eltern hat, die ihm positiv gegenübertreten? Schon bei der Geburt hatte seine kleine Flora einen rasanten Lebenswillen bewiesen. Ganz sicher würde sie sich in sein Herz schleichen, und er würde sie lieben, wie er die Große auch liebte. Vielleicht würde er an diesem Kind eine Freude haben, die er sich jetzt noch gar nicht vorstellen konnte. Vielleicht würde sie die Welt, zum Stolz der Eltern, etwas schöner machen. Aber vor
Gericht müsste er dabei bleiben, dass dieser Sonnenschein ungewollt war. Das würde das Verhältnis vielleicht jedes Mal aufs Neue belasten. Er würde sich schuldig fühlen, weil er dem Kind, das für all das nichts kann, so viel Negatives zumutete. Aber dann gäbe es kaum noch ein Zurück, denn das Verfahren später einzustellen hieße, die gesamten Kosten zu übernehmen. Das wäre eine zu hohe finanzielle Belastung.
Ich hatte ziemlich lange am Stück geredet, als Christoph Mahler seinen Blick von der Tischkante löste und mich ansah. So hatte er die Sache noch nicht betrachtet. Er hatte sich festgebissen in seinem Ärger über den Arzt und seinem Bedürfnis, diesen zum Zahlen zu zwingen. Er war so fokussiert auf diesen Punkt, dass er alles andere aus dem Blick verloren hatte. Er ging und erklärte, dass er sich melden würde. Er würde mit seiner Freundin darüber noch einmal sprechen. Tatsächlich rief er einige Tage später an und wollte einen kurzen Termin, wie er sagte. Er brachte mir einen wunderschönen Blumenstrauß mit und eine Flasche Prosecco. Auch Flora war mit dabei.
Er wolle nun einen Strich unter die Angelegenheit ziehen. Denn rückgängig zu machen war – wie fast immer, wenn es um Behandlungsfehler geht – nichts mehr.
Was jetzt zählte, war der Weg nach vorn. Mit Flora.
Schuld in die Schuhe schieben
Wenn Ärzte einen Anwalt als Beistand brauchen
Seine Patientin hätte es wissen müssen. Sie ist selbst Ärztin. Und trotzdem hat sie all seine Ratschläge ignoriert. Sie hat am Tag nach der Operation schon gefeiert, statt sich erst einmal zu schonen. Kein Wunder, dass die Sache so schiefgegangen ist. »Da ist sie selber schuld«, sagte Dr. Kirchhoff. Er war sehr erstaunt, als er kurz darauf ein Schreiben bekam, aus dem hervorging, dass die Patientin Ansprüche an ihn stellte und er Schadenersatz und Schmerzensgeld zahlen sollte, weil er sie nicht in eine Klinik eingewiesen habe.
Dr. Kirchhoff ist niedergelassener Chirurg und einer der Ärzte, die ich vertrete. Dass ich mich nicht nur für Patienten, sondern auch für Ärzte engagiere, ergibt sich aus meinem Selbstbild: Ich stehe auf der Seite des Rechts. Auch Ärzte brauchen einen Anwalt als Beistand. Wenn Patienten klagen, steht auf der anderen Seite ein Arzt – der längst nicht immer im Unrecht ist. Und noch viel seltener fügen sie anderen vorsätzlich Schaden zu und machen sich damit strafbar. Das sieht man schon daran, dass die allermeisten strafrechtlichen Ermittlungen gegen Ärzte wieder eingestellt werden. Im Zweifel für den Angeklagten, heißt ein Grundprinzip unserer strafrechtlichen Rechtsprechung.
Ich habe selbst als Ärztin gearbeitet, ich weiß, wie groß die Verantwortung ist und wie häufig die Situationen eskalieren
und sich anders entwickeln, als man es sich wünscht. Ich bin während meiner Ausbildung eine Weile Notarztwagen gefahren. Ich wollte lernen, Notfälle zu behandeln und nicht in Panik verfallen, wenn
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