Behandlungsfehler
Rechtlich gesehen schließt eine bevorstehende Feier eine Operation am Tag zuvor nicht aus. Es gab auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Patientin unzuverlässig war, und ihr Arzt deshalb von sich aus die Operation hätte verschieben müssen. Ich konnte also nur bei dem ansetzen, was danach geschah: Wenn ich beweisen konnte, dass die Patientin sich entgegen des ärztlichen Rates nicht hatte stationär behandeln lassen, was ihr Vorwurf war, lag die Verantwortung für die Folgen bei ihr. Aber ich fand keinen schriftlichen Hinweis darauf, dass Dr. Kirchhoff seiner Patientin geraten hatte, ins Krankenhaus zu gehen. Gab es dafür Zeugen?
Dr. Kirchhoff war aufgebracht über diese Frage. Er erzählte, dass er Hausbesuche grundsätzlich allein macht, eine Helferin mitzunehmen könne er sich nicht leisten. Die Patientin dagegen hatte in dem Anspruchsschreiben angegeben, dass eine Freundin von ihr zu dem fraglichen Zeitpunkt im Haus war. Dr. Kirchhoff hatte die Besucherin zwar nicht gesehen. Aber dass noch jemand im Haus war und das Gespräch verfolgt haben konnte, schien möglich und plausibel, da die Goldene Hochzeit vor der Tür stand. Vor Gericht würde bestenfalls Aussage gegen Aussage stehen. Wem die Richter
glauben würden, war offen. Dr. Kirchhoff wurde wütend: »Na, was glauben Sie denn von mir? Dass ich eine Infektion nicht erkenne und nicht weiß, wann eine Patientin zu ihrem eigenen Schutz ins Krankenhaus muss? Ich mache meinen Job seit 30 Jahren, ich war auf der Intensivstation, bin Notarztwagen gefahren und habe in der Ersten Hilfe gearbeitet. Ich bin doch kein Idiot!« – »Das sind die juristischen Spielregeln«, sagte ich ruhig.
Ärzte fühlen sich oft hilflos, wenn sie mit einem Anspruchsschreiben, einem Klageverfahren konfrontiert sind. Dabei ist unwesentlich, wie schwerwiegend der Fall ist. Auch Kleinigkeiten werfen sie oft aus der Bahn.
Einem meiner Mandanten war versuchter Betrug vorgeworfen worden: Er hatte Leistungen für einen Patienten abgerechnet, der schon verstorben war. Es handelte sich, wenn ich mich recht erinnere, um etwas mehr als zehn Euro. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann nach dem Tod seines Patienten mit dessen Ehefrau noch ein längeres Gespräch geführt hatte – sie wollte wissen, was die Todesursache war – und dieses Gespräch hatte er abgerechnet. Das darf er. Das Verfahren wurde eingestellt. Aber das Verfahren hat ihn so mitgenommen, dass er nachts nicht schlafen konnte. Ich finde das verständlich. Das Rechtswesen ist den meisten Ärzten sehr fremd. Und immer, wenn man es mit einem Gebiet zu tun hat, von dem man gar keine Ahnung hat, macht das Angst. Man kommt nicht so einfach damit klar, nicht zu wissen, wohin die Reise geht.
Manchmal ist es schwer, Mandanten klarzumachen, dass ich nicht ihre Gegnerin, sondern ihre Partnerin bin. Ich stehe auf ihrer Seite, egal, ob es sich um einen Arzt oder um einen Patienten handelt. Aber es gehört nun einmal zu meinen Aufgaben, sie auch über die Risiken aufzuklären und ihnen die Fragen zu stellen, auf die der gegnerische Anwalt oder der Richter auch stoßen werden. Nur so kann ich beurteilen, wie wir uns verhalten sollen. Wenn ich mit jemandem in ein gerichtliches
Verfahren gehe oder ihn außergerichtlich vertrete, so kann er sicher sein, dass ich ihn mit Überzeugung unterstütze.
Als Dr. Kirchhoff sich beruhigt hatte und bereit war, wieder zuzuhören, erklärte ich ihm, was das Problem war: Er begriff, dass Wahrheit für uns Juristen das ist, was wir beweisen können. Wenn ich mich mit meinem Ehemann streite und er erklärt, dass ich dieses oder jenes gesagt habe, so sage ich zuweilen: »Liebling, das habe ich nicht gesagt. Beweise es. Nur wenn Du es beweisen kannst, ist es wahr.« Das ist natürlich ein Totschlagargument, denn wie soll er beweisen, was ich gesagt habe? Aber es zeigt, wie wir Juristen ticken.
Am Abend rief Dr. Kirchhoff an. Er hörte sich fröhlich an. »Ich habe einen Zeugen«, sagte er. Und erzählte, dass er, nachdem er versucht hatte, seine Patientin in die Klinik zu überweisen, dort angerufen hatte, um für alle Fälle sicherzustellen, dass dort ein Bett für sie frei war. Einer der jungen Männer, der als Assistent in seiner Praxis mitgearbeitet hatte, war inzwischen Arzt an diesem Krankenhaus. Er hatte mit diesem Mann gesprochen und ihm den Fall erklärt. Er hatte in dem Gespräch sogar gesagt, dass er seine Patientin schon lange kenne und man sich doch besonders gut um sie kümmern möge.
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