Behandlungsfehler
dass sie nur noch einen Herzschlag von 28 bis 30 Schlägen pro Minute hatte, normal sind 60 bis 80. Sie wusste nie, ob sie am nächsten Morgen noch aufwachen würde. Trotzdem versuchte sie ihr Leben weiterzuleben. Mit ihrem Mann baute sie ein Haus. Ihre Einstellung war: »Mir egal, ich lebe einfach jeden Tag, der mir geschenkt wird, und ob das übermorgen noch funktioniert, weiß ich nicht. Aber auf morgen will ich mal hoffen.«
Ich habe sie dafür bewundert. Es ging ihr wirklich nicht gut. Die Medikamente hatten massive Nebenwirkungen. Vom
Kortison schwoll ihr Körper an. Früher war sie zierlich und schlank, nun war ihr Gesicht aufgedunsen, der Bauch dick. Ihre Zukunftsträume hatte sie begraben, die Krankheit ließ dafür keinen Platz mehr. Sie lebte nur noch für den nächsten Tag. Aber sie hatte ihren Andreas. So eine Krankheit belastet nicht nur den Patienten, sondern die ganze Familie. Manch einer wäre vermutlich weggelaufen. Andreas nicht, obwohl er unter ihrer Krankheit litt. Er blieb an ihrer Seite. Mehr als zehn Jahre lebten sie so mit der Krankheit.
Eines Tages ging Christiane zu einer Computertomografie. Eigentlich sollte nur eine Aufnahme vom Brustkorb gemacht werden, doch das Gerät nahm auch die Nieren auf. Ein Zufall. Mit weitreichenden Folgen. Denn auf dem Bild war ganz deutlich ein Nebennierentumor zu erkennen. Damit gab es plötzlich und unerwartet eine völlig andere Erklärung für Christianes Symptome: Der Tumor produzierte Adrenalin und das sorgte für die Beschwerden, die dem Lupus zugeordnet worden waren.
Niemand war auf die Idee gekommen, dass etwas anderes als der Lupus erythematodes als Grund für ihr Kranksein infrage kam. Es gab zwar bestimmte Befundkonstellationen, die nicht passten, und es hätten auch bestimmte Untersuchungen gemacht werden müssen. Aber die hatte man unterlassen. Die Ärzte hatten ihre Diagnose, sie hatten ihren Lupus erythematodes und sie haben mit diesem therapeutisch herumgespielt. Sie haben nicht mehr nach rechts und links geblickt, sie haben sich auf den Lupus fokussiert. In gewisser Weise war das verständlich, weil das Problem dieser Krankheit ist, dass sie alles macht. Und weil sie alles macht, passt auch alles zum Krankheitsbild. Aber keiner hat diese Diagnose überhaupt noch hinterfragt. Christiane wurde therapiert, therapiert, therapiert. Und man hat damit zehn Jahre Angst in ihr Leben gebracht und ihre Lebensqualität verringert.
Christiane wurde dann operiert. Einen Nebennierentumor zu entfernen, ist relativ unproblematisch. Die Herausforderung
kam in diesem Fall erst danach. Sie war extrem hoch mit Medikamenten eingestellt und der Tumor hatte zusätzlich Adrenalin in rauen Mengen ausgeschüttet. Für die Mediziner war es harte Arbeit, den Stoffwechsel wieder in den Griff zu bekommen. Das Adrenalin, das der Tumor produziert hatte, musste erst durch Medikamente ersetzt und die Dosis schließlich extrem vorsichtig heruntergefahren werden.
Es ist gelungen. Christiane hat alles gut überstanden. Heute lebt sie völlig normal und beschwerdefrei. Und sie braucht keine Medikamente mehr – auch kein Kortison. Die Nebenwirkungen sind alle abgeklungen. Ihre alten Kleider würden ihr wieder passen, aber die sind natürlich in der Zwischenzeit aus der Mode gekommen.
Die Zeit ist nicht spurlos an ihr vorbeigezogen. Sie hat durch diese Fehldiagnose auf einmal zehn Jahre ihres Lebens verloren. Jetzt versucht sie, diese nachzuholen – ein wenig zum Leidwesen ihres Mannes. Denn sie hat einen unfassbaren Hunger entwickelt – einen Hunger nach Leben. Sie hat ihren sicheren Job als Dermatologin aufgegeben und stattdessen noch einmal eine andere Facharztausbildung gemacht – sie ist heute Arbeitsmedizinerin. Sie arbeitet für ein international tätiges arbeitsmedizinisches Institut und fühlt sich sehr wohl dabei. Man könnte sagen, sie erfindet sich neu.
Ihr Mann jedoch steht da und versteht die Welt nicht mehr. Für ihn war das Leben vorher auch schön. Er versteht nicht, warum es jetzt nicht einfach so weitergeht. Aber für sie geht das Leben natürlich viel, viel weiter und sie sagt: »Andreas, komm mit. Komm mit Tennisspielen, komm mit Tauchen. Ich will das. Und ich möchte wieder Marathon laufen, so wie früher, vor der Diagnose. Ich möchte laufen. Lass mich trainieren, lass mich laufen und laufen und laufen und lass mich meinen unbändigen Hunger nach Leben stillen.« Wenn sie so erzählt, bin ich dicht bei ihr.
Juristisch betrachtet ist es ein
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