Behandlungsfehler
Privatsphären geht.
Niemand kam, als sie rief
Bei Organisationsverschulden ist die Klinik in der Pflicht
E ines Tages kam eine Frau auf zwei Gehstützen in die Kanzlei. Sie war extra aus einer kleinen Stadt in Norddeutschland angereist, um ihr Anliegen vorzutragen.
Sieglinde Halberstadt war mit einem Schlaganfall in die Klinik gebracht worden. Sie wurde zunächst auf die Intensivstation gelegt und war halbseitig gelähmt. Die Krankenschwester war gerade bei ihr im Zimmer gewesen und hatte gefragt, ob alles im Lot sei. Da war auch noch alles im Lot. Aber kaum war die junge Frau draußen, da musste Frau Halberstadt auf die Toilette. Dass sie einfach aufstehen, die Füße in ihre Pantoffeln schieben und ins Badezimmer gehen würde, war unmöglich. Sie hatte sich an ihren neuen Zustand noch nicht richtig gewöhnt, aber sie hatte schon begriffen, dass ihr rechtes Bein ihr gegenwärtig nicht gehorchte. Mühselig langte sie mit dem Arm nach der Klingel, drückte den Knopf, lauschte – und nichts geschah. Kein Laut. Vielleicht klingelt es nur im Schwesternzimmer, dachte Frau Halberstadt und versuchte, geduldig zu sein. Sie wartete. Niemand kam. Sie drückte noch einmal auf den Knopf. Dass immer noch niemand kam, brachte sie fast um den Verstand. Sie hatte Sorge, sich einzunässen. Das war ihr das letzte Mal an ihrem ersten Schultag passiert, vor lauter Aufregung. Jetzt war sie 76 Jahre alt und eine Frau, die etwas auf sich hält. Aber
je länger sie wartete, desto drängender wurde das Problem. Nach circa 30 Minuten hielt Frau Halberstadt es nicht mehr aus. Sie rollte sich mühsam zur Seite, um nach der Flasche zu angeln, die auf ihrem Nachttisch stand. In ihrer Jugend hatte sie selbst im Krankenhaus gearbeitet, sie wusste: Wenn es irgendwo scheppert, ist auch sofort jemand da. Ihr Plan war, die Flasche mit voller Wucht gegen die Tür zu schleudern und damit richtig Krach zu machen. Sie hob den Arm, um die Flasche zu greifen. Da rutschte sie ab. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden, und ein grimmiger Schmerz zuckte durch ihre Hüfte. Sie war so unglücklich gefallen, dass sie sich ganz offensichtlich etwas gebrochen hatte. In diesem Moment stand die Krankenschwester mit dem Abendessen in der Tür. »Aber Frau Halberstadt«, rief sie, »was machen Sie denn da?« Frau Halberstadt sah sie mit verzerrtem Gesicht an und ächzte: »Warum sind Sie nicht einen kleinen Moment früher gekommen?«
Die Ärzte stellten später fest, dass der Schenkelhals gebrochen war. Eine Operation wurde nötig. Nun hatte die Patientin wegen des Schlaganfalls blutverdünnende Mittel genommen. Die Ärzte mussten abwägen, ob sie trotzdem operieren konnten. Letztlich ist alles gut gegangen. Frau Halberstadt hat bei der Operation zwar sehr stark geblutet, aber sie hat überlebt. Als sie wieder einigermaßen auf dem Damm war, fand sie, dass sie Ansprüche geltend machen sollte. Aus ihrer Sicht war der Sturz durchaus vermeidbar. Waren die Schwestern nicht verpflichtet zu kommen, wenn sie, die Patientin, klingelt, weil sie auf die Toilette muss – und vor allem, auf der Intensivstation liegend?
Es stellte sich schließlich heraus, dass die Klingel am Bett schlicht defekt war. Es waren Handwerker im Haus gewesen, die an der elektrischen Anlage gearbeitet hatten. Hinterher hatte keiner kontrolliert, ob die Klingel funktionierte. Es war niemand auf die Idee gekommen, dass die Leitung unterbrochen sein könnte. Aber ein Krankenhaus muss auch bei Kleinigkeiten sicherstellen, dass alles in Ordnung ist.
In der Sprache der Juristen ist das ein Organisationsverschulden. Ein Krankenhausträger muss organisatorisch gewährleisten, dass er mit dem vorhandenen ärztlichen Personal und funktionstüchtigem medizinischen Gerät seine Aufgaben nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnis auch erfüllen kann. Die Klingel muss überprüft werden, die Infusion muss frisch sein, die Schwester muss wissen, wo das Operationsbesteck liegt. Sie muss sicherstellen, dass genügend ausreichend qualifizierte Operateure und fachlich einwandfrei arbeitendes nichtärztliches Personal vorhanden sind. Und: Sie muss das Personal so einteilen, dass die behandelnden Ärzte nicht durch einen vorangehenden Nachtdienst übermüdet und deshalb nicht mehr in der Lage sind, mit der erforderlichen Konzentration und Sorgfalt zu operieren.
Wenn ein Organisationsfehler vorliegt, hilft kein Wenn und Aber. Das ist wie bei einem Auffahrunfall: Egal, warum Sie einem anderen
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