Bei Anbruch der Nacht
sprechen, wie wir beide über Gershwin oder Harold Arlen diskutierten, und dann musste ich mir auf die Zunge beißen, um mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
Emily war damals schlank und schön, und ich bin sicher, sie hätte eine ganze Traube von Verehrern gehabt, wenn sie sich nicht so früh im Studium mit Charlie zusammengetan hätte. Aber sie war nie kokett oder aufreißerisch, und nachdem sie mit Charlie ging, zogen sich die anderen Interessenten zurück.
»Das ist ja der einzige Grund, warum ich mit Charlie zusammen bin«, sagte sie einmal zu mir, mit todernster Miene, brach aber gleich darauf in Gelächter aus, weil ich so schockiert dreinschaute. »War ein Scherz, Blödmann. Charlie ist mein Schatz, mein Schatz, mein Schatz.«
Charlie war mein bester Freund an der Uni. In unserem ersten Studienjahr hingen wir die ganze Zeit zusammen, und so habe ich Emily kennengelernt. Im zweiten Jahr zogen Charlie und Emily in eine Wohngemeinschaft in der Stadt, und ich kam zwar oft zu Besuch, aber die Diskussionen mit Emily vor ihrem Plattenspieler waren von da an Vergangenheit. Erstens saßen, egal, wann ich kam, immer etliche andere Studenten dabei und lachten und redeten, und zweitens gab es jetzt eine noble Stereoanlage, aus der so laute Rockmusik plärrte, dass man sich anschreien musste.
Charlie und ich sind all die Jahre enge Freunde geblieben. Dass wir uns nicht mehr so oft sehen wie früher, liegt vor allem
an der räumlichen Entfernung. Ich habe Jahre hier in Spanien gelebt, außerdem in Italien und Portugal, während Charlie seine Basis immer in London hatte. Das hört sich jetzt so an, als wäre ich der Jetsetter und er der Stubenhocker, aber das ist falsch. In Wirklichkeit ist Charlie derjenige, der ständig unterwegs ist und von einem Spitzenmeeting zum nächsten fliegt – nach Texas, Tokio, New York -, während ich Jahr um Jahr in den gleichen feuchten Gebäuden festsitze und mir Rechtschreibtests ausdenke und dieselben Konversationen auf Minimalenglisch führe. Ich-heiße-Ray. Wie-heißt-du? Hastdu-Kinder?
Als ich nach dem Studium anfing, Englisch zu unterrichten, schien mir das ein recht angenehmes Leben – eigentlich eine Fortsetzung des Studentendaseins. In ganz Europa schossen Sprachschulen aus dem Boden, und dass der Unterricht nervtötend und die Arbeitszeiten ausbeuterisch sind, ist einem in diesem Alter ziemlich egal. Man sitzt viel in Kneipen, schließt leicht Freundschaften und fühlt sich, als wäre man Teil eines großen Netzwerks, das sich rund um den Globus spannt. Man trifft Leute, die frisch von ihren Einsätzen in Peru oder Thailand zurück sind, und mit der Zeit bildet man sich ein, man könnte sich, wenn man nur wollte, endlos um die Welt treiben lassen und müsste nur seine Beziehungen spielen lassen, um noch im abgelegensten Winkel der Erde einen Job zu kriegen. Und immer gehörte man zu dieser heimeligen, weitgespannten Familie von Sprachlehrern im Auslandseinsatz, die an der Bar hocken und sich Geschichten von ehemaligen Kollegen, psychotischen Schulleitern und exzentrischen British-Council-Mitarbeitern erzählen.
In den späten Achtzigern hieß es, in Japan sei für Sprachlehrer ein Haufen Geld zu verdienen, und ich überlegte ernsthaft,
nach Japan zu gehen, aber dazu kam es nie. Ich dachte auch über Brasilien nach, las sogar einige Bücher über die Kultur und bestellte die Bewerbungsformulare. Aber aus irgendwelchen Gründen schaffte ich es nie so weit. Süditalien, eine kurze Zeit in Portugal, wieder zurück nach Spanien. Und ehe du dich versiehst, bist du siebenundvierzig, und die Leute, mit denen du angefangen hast, sind längst durch eine Generation ersetzt, die über andere Sachen tratscht, andere Drogen nimmt und andere Musik hört.
Unterdessen hatten Charlie und Emily geheiratet und sich in London niedergelassen. Charlie sagte mal, wenn sie Kinder bekämen, würde ich bei einem Pate werden. Das passierte nie. Ich meine, es kam nie ein Kind, und jetzt ist es wahrscheinlich zu spät. Ich muss sagen, ich empfand darüber immer eine leise Enttäuschung. Vielleicht hatte ich mir vorgestellt, Pate eines ihrer Kinder zu sein wäre eine immerhin offizielle, wenn auch noch so zarte Verbindung zwischen ihrem Leben in England und meinem hier draußen.
Jedenfalls reiste ich Anfang dieses Sommers nach London, um sie zu besuchen. Das war schon lang so geplant, und als ich ein paar Tage vorher anrief, um mich zu vergewissern, sagte Charlie, es gehe ihnen beiden »geradezu
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