Bei Anbruch der Nacht
grandios«. Deshalb hatte ich nach ein paar Monaten, die nicht gerade die besten meines Lebens gewesen waren, keinen Grund, in London etwas anderes zu erwarten als Urlaub und Umsorgtwerden.
Tatsächlich waren meine Gedanken, als ich an diesem sonnigen Tag aus der U-Bahn-Station in ihrer Nähe auftauchte, bei den möglichen Verschönerungen, die sie seit dem letzten Besuch in »meinem« Schlafzimmer vorgenommen hatten. Im Lauf der Jahre hatte es fast immer die eine oder andere Neuerung gegeben. Einmal war es ein funkelnder elektronischer
Apparat in einer Ecke des Raums gewesen; ein andermal hatten sie alles neu gestrichen. So oder so wäre das Zimmer in einer Weise für mich hergerichtet, wie es eines Nobelhotels würdig wäre – bereitgelegte Handtücher, eine Schale mit Keksen auf dem Nachttisch, eine Auswahl von CDs auf der Kommode. Das war fast schon eine Sache des Prinzips. Vor ein paar Jahren hatte mich Charlie ins Gästezimmer geführt und mit verhaltenem Stolz allerlei Schalter betätigt, die lauter raffi niert versteckte Lampen an- und ausgehen ließen: hinter dem Kopfbrett des Betts, über dem Schrank und so weiter. Ein anderer Schalter hatte ein dumpfes Brummen ausgelöst, woraufhin sich vor den beiden Fenstern Rollläden herabsenkten.
»Aber Charlie, wozu brauche ich Rollläden?«, hatte ich gefragt. »Ich will hinausschauen, wenn ich aufwache. Vorhänge sind doch völlig ausreichend.«
»Das sind Schweizer Rollläden«, sagte er, als wäre das eine Erklärung.
Diesmal aber murmelte Charlie vor sich hin, als er mich die Treppe hinaufführte, und als wir zu meinem Zimmer kamen, wurde mir klar, dass er sich entschuldigte. Denn ich sah das Zimmer, wie ich es noch nie gesehen hatte. Das Bett war nicht bezogen, die Matratze fleckig und halb herausgezogen. Auf dem Boden lagen Stapel von Zeitschriften und Taschenbüchern, Bündel alter Kleidungsstücke, ein Hockeyschläger, ein umgekippter Lautsprecher. Ich blieb auf der Türschwelle stehen und starrte auf das Durcheinander, während Charlie einen Platz frei räumte, um meine Tasche abzustellen.
»Du schaust wie einer, der gleich nach dem Manager verlangen wird«, sagte er bitter.
»Nein, nein! Es ist nur ein so ungewöhnlicher Anblick.«
»Ein Chaos, ich weiß. Ein Chaos.« Er ließ sich auf die Matratze
sinken und seufzte. »Ich dachte, die Mädchen vom Reinigungsdienst hätten das alles in Ordnung gebracht. Aber natürlich nicht. Gott weiß, warum.«
Er schien äußerst niedergeschlagen, aber dann sprang er plötzlich wieder auf.
»Na komm, gehen wir raus, was essen. Ich hinterlasse Emily eine Nachricht. Wir gönnen uns ein gemütliches, ausgiebiges Mittagessen, und bis wir zurück sind, ist dein Zimmer – die ganze Wohnung – wieder in Ordnung.«
»Aber wir können Emily doch nicht bitten, das alles allein aufzuräumen.«
»Oh, sie tut es nicht selbst. Sie gibt es an die Putztruppe weiter. Sie versteht es, ihnen Beine zu machen. Ich weiß leider nicht mal die Nummer. Komm, Mittag essen, gehen wir Mittag essen. Drei Gänge, Flasche Wein, alles.«
Was Charlie ihre Wohnung nannte, waren die beiden oberen Stockwerke eines vierstöckigen Reihenhauses in einer gut situierten, aber recht belebten Straße. Wir traten durch die Haustür direkt hinaus in ein Gedränge aus Fußgängern und Verkehr. Charlie führte mich an Geschäften und Büros vorbei zu einem schicken kleinen Italiener. Wir hatten keine Reservierung, aber die Kellner begrüßten Charlie wie einen Freund, und man wies uns einen Tisch zu. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass das Lokal voller Geschäftsleute mit Anzug und Krawatte war, und war froh, dass Charlie genauso schmuddelig aussah wie ich. Er hatte offensichtlich meine Gedanken erraten, denn als wir saßen, sagte er:
»Ach, du bist so provinziell, Ray. Heutzutage ist das alles anders. Du warst zu lang weg.« Und beunruhigend laut fügte er hinzu: » Wir sehen aus wie Leute, die es geschafft haben. Alle anderen hier wirken wie mittleres Management.« Dann
beugte er sich zu mir und sagte leiser: »Hör zu, wir müssen reden. Du musst mir einen Gefallen tun.«
Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich Charlie das letzte Mal in irgendeiner Sache um Hilfe gebeten hatte, aber ich nickte beiläufig und wartete. Eine Zeit lang spielte er mit seiner Speisekarte herum, dann legte er sie aus der Hand.
»Die Sache ist die, dass Emily und ich im Moment in einer schwierigen Phase stecken. Eigentlich gehen wir uns in letzter Zeit völlig
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