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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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aus dem Weg. Deswegen war sie vorhin nicht da, um dich zu begrüßen. Vorläufig, fürchte ich, wirst du immer nur einen von uns zu Gesicht kriegen. Ein bisschen so wie im Theater, wenn ein Darsteller zwei Rollen gleichzeitig hat. Du wirst nicht Emily und mich zugleich im selben Raum antreffen. Kindisch, oder?«
    »Offensichtlich komme ich sehr ungelegen. Aber ich gehe wieder, gleich nach dem Essen. Ich kann bei meiner Tante Katie in Finchley unterkommen.«
    »Was redest du? Du hörst mir nicht zu. Ich sag dir doch: Du musst mir einen Gefallen tun.«
    »Ich dachte, das ist deine Art, mir mitzuteilen …«
    »Nein, du Idiot, ich bin derjenige, der verschwinden muss. Ich habe einen Geschäftstermin in Frankfurt, ich fliege heute Nachmittag. In zwei Tagen, spätestens Donnerstag bin ich zurück. Du bleibst inzwischen hier. Machst alles wieder gut, bringst die Sache ins Lot. Dann komm ich zurück, sage fröhlich Hallo, küsse meine geliebte Frau, als hätten die letzten zwei Monate nicht stattgefunden, und wir machen weiter wie früher.«
    In diesem Moment trat die Kellnerin an den Tisch, um unsere Bestellung entgegenzunehmen, und als sie wieder fort war, schien Charlie nicht gewillt, auf das Thema zurückzukommen,
sondern überschüttete mich mit Fragen nach meinem Leben in Spanien, und alles, was ich ihm erzählte, ob gut oder schlecht, kommentierte er mit einem säuerlichen kleinen Lächeln und einem Kopfschütteln, als bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Irgendwann versuchte ich ihm zu sagen, welche Fortschritte ich als Koch gemacht hätte – dass ich das Weihnachtsbuffet für mehr als vierzig Schüler und Lehrer praktisch im Alleingang gezaubert hätte -, aber er schnitt mir mitten im Satz das Wort ab.
    »Hör zu«, sagte er. »Deine Lage ist aussichtslos. Du musst kündigen. Aber natürlich musst du dir zuerst einen neuen Job organisieren. Dieser depressive Portugiese – nimm ihn doch als Vermittler. Sichere dir den Posten in Madrid, dann stoß die Wohnung ab. Okay, Folgendes ist zu tun. Erstens.«
    Er hielt eine Hand hoch und zählte jede einzelne Anweisung an den Fingern ab. Unser Essen kam, aber er ignorierte es, denn es waren noch etliche Finger übrig, und er machte weiter, bis er durch war. Als wir endlich zu essen anfingen, sagte er:
    »Ich weiß, dass du nichts davon umsetzen wirst.«
    »Doch, doch, alles, was du sagst, ist sehr vernünftig.«
    »Du wirst zurückgehen und genauso weitermachen wie immer. In einem Jahr sitzen wir dann wieder hier, und du wirst exakt über dieselben Dinge jammern.«
    »Ich hab doch gar nicht gejammert …«
    »Weißt du, Ray, die anderen können auch nichts anderes tun, als dir Ratschläge zu geben. Irgendwann musst du dein Leben schon selber in die Hand nehmen.«
    »Okay, das tu ich, ich versprech’s. Aber du hast vorhin was von einem Gefallen gesagt.«
    »Ach ja.« Nachdenklich kaute er seine Nudeln. »Um ehrlich zu sein, war das mein eigentlicher Beweggrund, dich nach
London einzuladen. Natürlich ist es schön, dich zu sehen und alles. Aber die Hauptsache für mich war, dass ich was von dir wollte. Du bist schließlich mein ältester Freund, ein lebenslanger Freund …«
    Er begann wieder wie wild zu essen, und ich sah verblüfft, dass er leise weinte. Ich langte über den Tisch und klopfte ihm auf die Schulter, aber er schaufelte sich einfach weiter Pasta in den Mund, ohne aufzublicken. Das ging etwa eine Minute so, und ich langte noch einmal hinüber und gab ihm wieder einen kleinen Klaps auf die Schulter, ohne mehr Wirkung zu erzielen als mit dem ersten Versuch. Dann kam die Kellnerin mit munterem Lächeln und erkundigte sich, ob alles nach unserem Wunsch sei. Exzellent, versicherten wir beide, und als sie davonging, schien Charlie die Fassung wiederzufinden.
    »Okay, Ray, hör zu. Worum ich dich bitte, ist total einfach. Ich will nur, dass du Emily die nächsten paar Tage Gesellschaft leistest, ein angenehmer Gast bist. Das ist alles. Nur bis ich zurück bin.«
    »Das ist alles? Du bittest mich einfach, mich um sie zu kümmern, während du weg bist?«
    »Genau. Vielmehr lass sie sich um dich kümmern. Du bist der Gast. Ich habe ein paar Sachen für euch arrangiert. Theaterkarten und so weiter. Spätestens Donnerstag bin ich zurück. Dein Auftrag besteht nur darin, ihre Laune zu heben und zu halten. Sodass sie, wenn ich heimkomme und ›Hallo, Schatz‹ sage und sie umarme, antwortet: ›Oh, hallo Schatz, schön, dass du wieder da bist, wie

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