Bei Anbruch der Nacht
tönte Charlie aus der Diele. Ich hörte, dass er dort jetzt seinen Koffer abstellte. »Sich aufführen wie ein Teenager, wenn man schon zehn Jahre keiner mehr ist, das geht ja noch. Aber immer noch so weitermachen, wenn man schon fast fünfzig ist …!«
»Ich bin erst siebenundvierzig …«
»Was soll das heißen, du bist erst siebenundvierzig?« Emilys Stimme war unnötig laut – schließlich saß ich direkt neben ihr. » Erst siebenundvierzig. Dieses ›erst‹ ist es, das dein Leben zerstört, Raymond. Erst, erst, erst. Du hast ja dein ganzes Leben noch vor dir. Bist erst siebenundvierzig. Bald bist du erst siebenund sechzig und drehst dich noch immer im Kreis, weil du noch immer kein verdammtes Dach überm Kopf hast!«
»Er muss endlich seinen verdammten Arsch hochkriegen!«, schrie Charlie durchs Treppenhaus. »Sich am Riemen reißen, bis der Riemen reißt!«
»Raymond, hältst du denn nie mal inne und fragst dich, wer du bist?«, sagte Emily. »Schämst du dich nicht, wenn du dran denkst, was für ein Potenzial du hättest? Sieh dir an, was du aus deinem Leben gemacht hast! Es … es ist zum Aus-der-Haut-Fahren! Rasend macht es einen!«
In der Tür erschien Charlie im Regenmantel, und einen Moment lang schrien sie mir gleichzeitig verschiedene Vorwürfe entgegen. Dann brach Charlie ab, verkündete, er werde jetzt gehen – wie aus Abscheu mir gegenüber -, und war fort.
Sein Abgang beendete Emilys Hasstirade, und ich nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen. »Entschuldige«, sagte ich, »ich geh schnell und helfe Charlie mit seinem Gepäck.«
»Wieso brauche ich Hilfe bei meinem Gepäck?«, fragte Charlie aus der Diele. »Ich habe nur einen Koffer.«
Aber er erlaubte mir, ihn bis auf die Straße zu begleiten, und ließ mich mit seinem Koffer zurück, während er sich an den Straßenrand stellte, um nach einem Taxi Ausschau zu halten. Es war keines in Sicht, und er beugte sich beunruhigt, einen Arm halb erhoben, auf die Straße hinaus.
Ich trat zu ihm und sagte: »Charlie. Ich glaube nicht, dass das funktioniert.«
»Was funktioniert nicht?«
»Emily hasst mich total. Und das, nachdem sie mich nur ein paar Minuten lang gesehen hat. Wie wird sie erst nach drei Tagen drauf sein? Wie kommst du bloß auf die Idee, du könntest in ein Haus des Friedens und der Eintracht zurückkehren?«
Noch während ich sprach, dämmerte mir etwas, und ich verstummte. Charlie, dem die Veränderung nicht entging, drehte sich um und musterte mich scharf.
»Ich glaube«, sagte ich schließlich, »ich habe eine Ahnung, warum ich es sein musste und niemand sonst.«
»Aha. Kann es sein, dass Ray ein Licht aufgeht?«
»Ja, vielleicht.«
»Aber es kann dir ja egal sein. Worum ich dich bitte, bleibt doch genau dasselbe.« Jetzt standen wieder Tränen in seinen Augen. »Erinnerst du dich, Ray, wie Emily immer sagte, dass sie an mich glaubt? Jahrelang sagte sie das. Ich glaube an dich, Charlie, du kommst ganz nach oben, du bist wirklich begabt. Noch vor drei, vier Jahren sagte sie das. Weißt du, wie aufreibend das mit der Zeit wurde? Es lief alles gut bei mir. Es läuft alles gut. Total in Ordnung. Aber sie dachte, ich sei zu Höherem berufen … was weiß ich, Präsident der Welt oder was, scheiße, Mann! Ich bin ein ganz normaler Typ, bei dem alles gut läuft. Aber das sieht sie nicht. Das ist der Kernpunkt, der Kern von allem, was schiefgegangen ist.«
Tief in Gedanken setzte er sich in Bewegung. Ich hastete zurück zu seinem Koffer und zog ihn auf den Rollen hinter mir her. Es herrschte nach wie vor ein ziemliches Gedränge auf der Straße, und es war ein Kampf, mit Charlie Schritt zu halten, ohne dabei mit dem Koffer Leute zu rammen. Aber Charlie ging mit gleichmäßigem Schritt dahin und merkte nichts von meinen Schwierigkeiten.
»Sie denkt, ich werde meinen Möglichkeiten nicht gerecht«, sagte er. »Aber das stimmt nicht. Es läuft alles, wie es soll. Endlose Horizonte sind eine feine Sache, wenn du jung bist. Aber in unserem Alter, da brauchst du … da brauchst du eine Perspektive. Das ging mir ständig im Kopf herum, wenn sie mir wieder mal damit auf den Senkel ging. Perspektive, Perspektive, sie braucht eine Perspektive. Und ich sagte mir dauernd, bitte sehr, es läuft doch alles gut. Schau dir die Massen
anderer Leute an, Leute, die wir kennen. Schau dir Ray an. Schau dir an, was für einen Saustall er aus seinem Leben gemacht hat. Sie braucht eine Perspektive.«
»Und deshalb hast du beschlossen, mich
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