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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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entdeckte. Diesmal aber war das Resultat enttäuschend: Es war unverkennbar das Werk einer Menschenhand, nicht eines Hundegebisses. Ich war wieder in meinen vorigen Irrtum verfallen und hatte mich nicht ausreichend mit Hendrix identifiziert.
    Also ließ ich mich auf Hände und Knie nieder, senkte den Kopf zu der Illustrierten hinunter und packte die Seiten mit den Zähnen. Es schmeckte parfümiert, gar nicht unangenehm. Ich schlug ein zweites Magazin auf, ungefähr in der Mitte, und begann die Prozedur zu wiederholen. Die ideale Technik, wurde mir bald klar, war nicht unähnlich jener, die es braucht,
wenn man dieses Jahrmarktsspiel macht und versucht, nur mit den Zähnen, ohne Zuhilfenahme der Hände, einen schwimmenden Apfel aus dem Wasser zu fischen. Am besten funktionierte eine leichte Kaubewegung, bei der sich der Unterkiefer die ganze Zeit geschmeidig bewegte: Auf diese Weise kräuselten sich die Seiten zusammen und bildeten hübsche Knitterfalten. Ein allzu zielstrebiger Biss hingegen tackerte die Seiten nur zusammen, ohne dass sich sonst viel tat.
    Es wird wohl daran liegen, dass mich diese Spitzfindigkeiten derart gefangen nahmen – jedenfalls bemerkte ich Emily erst, als sie bereits draußen in der Diele stand und mich von der Tür her beobachtete. Als ich mir ihrer Anwesenheit bewusst wurde, war meine erste Empfindung nicht Panik oder Scham, sondern Gekränktheit, dass sie einfach so dastand, ohne sich zuvor irgendwie bemerkbar gemacht zu haben. Wenn ich bedachte, dass ich erst ein paar Minuten zuvor eigens in ihrem Büro angerufen hatte, eben um einer Situation wie dieser vorzubeugen, fühlte ich mich, genau genommen, als Opfer vorsätzlicher Täuschung. Vielleicht war das der Grund, weshalb meine erste wahrnehmbare Reaktion ein ermatteter Seufzer war, ohne dass ich einen Versuch unternahm, mich aus meiner geduckten Stellung zu erheben. Mein Seufzer holte Emily ins Zimmer, und sie legte mir sehr sanft die Hand auf den Rücken. Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich neben mir niederkniete, aber ihr Gesicht schien dem meinen sehr nahe, als sie sagte:
    »Raymond, ich bin wieder da. Setzen wir uns doch, ja?«
    Sie half mir auf die Beine, und ich musste dem Bedürfnis widerstehen, sie abzuwehren.
    »Das ist aber komisch«, sagte ich. »Noch vor ein paar Minuten warst du auf dem Weg in eine Sitzung.«

    »War ich, ja. Aber nach deinem Anruf wurde mir klar, dass es Priorität hat, heimzukommen.«
    »Wieso Priorität? Emily, bitte, du musst mich nicht am Arm festhalten, es besteht keine Gefahr, dass ich umfalle. Wieso sollte es Priorität haben, dass du heimkommst?«
    »Dein Anruf. Ich erkannte, was das war. Ein Hilfeschrei.«
    »Aber nein, nichts dergleichen. Ich wollte nur …« Ich brach ab, denn ich bemerkte, dass sich Emily mit verwundertem Ausdruck im Zimmer umsah.
    »Oh, Raymond«, murmelte sie vor sich hin.
    »Ich war heute Nachmittag wohl ein bisschen ungeschickt. Ich hätte schon noch aufgeräumt, aber du bist zu früh heimgekommen.«
    Ich griff nach der liegenden Stehlampe, doch Emily hielt mich zurück.
    »Es ist egal, Ray. Es ist wirklich ganz egal. Wir bringen das alles nachher gemeinsam in Ordnung. Setz dich jetzt einfach hin und entspann dich.«
    »Schau, Emily, es ist dein Zuhause und alles, das ist schon klar. Aber warum bist du so leise hereingeschlichen?«
    »Ich bin nicht geschlichen, Lieber. Ich habe gerufen, als ich an der Haustür war, aber du schienst nicht da zu sein. Also war ich kurz auf dem Klo, und als ich wieder herauskam – nun, da warst du doch da. Aber lass uns nicht darauf herumreiten, es spielt keine Rolle. Jetzt bin ich da, und wir machen uns einen gemütlichen Abend miteinander. Bitte setz dich doch, Raymond, ich mach uns Tee.«
    Als sie das sagte, war sie schon auf dem Weg zur Küche. Ich fummelte unterdessen am Schirm der Stehlampe herum und brauchte einen Moment, bis mir wieder einfiel, was sich dort befand – und dann war es natürlich zu spät. Ich lauschte
auf eine Reaktion von ihr, aber ich hörte nichts. Rasch stellte ich den Lampenschirm ab und ging zur Küchentür.
    Der Topf kochte noch immer vor sich hin, Dampfschwaden umwaberten den Schaft des umgedrehten Stiefels. Der Geruch, den ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum wahrgenommen hatte, war in der Küche viel ausgeprägter. Er war beißend, natürlich, und erinnerte vage an Curry. Vor allem aber beschwor er die Geruchswahrnehmung herauf, die man hat, wenn man nach einer langen, schweißtreibenden Wanderung den Fuß

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