Bei Anbruch der Nacht
warum. Denn wenn ich doch mal innehalte und nachdenke, dann weiß ich, dass ich niemand anderen will als ihn.«
Eine Weile nippte sie nur stumm an ihrem Glas und hörte der Musik zu. Dann sagte sie: »Weißt du, Raymond, stell dir vor, du bist auf einer Party, und es wird getanzt. Und es ist vielleicht ein langsamer Tanz, und du bist mit der Person zusammen, mit der du unbedingt zusammen sein willst: Eigentlich sollte der restliche Raum dann verschwinden. Aber irgendwie verschwindet er nicht. Es passiert einfach nicht. Du weißt,
dass keiner der Typen auch nur halb so nett ist wie der in deinen Armen. Aber … da sind diese ganzen Leute überall im Raum. Sie lassen dich nicht in Ruhe. Sie rufen und winken und tun bescheuerte Sachen, bloß um auf sich aufmerksam zu machen. ›He! Wie kannst du damit zufrieden sein?! Du kannst doch viel mehr haben! Schau mal hier rüber!‹ Dauernd schreien sie solche Sachen, kommt dir vor. Und es wird aussichtslos, du kannst einfach nicht in Ruhe mit deinem Typen tanzen. Verstehst du, was ich meine, Raymond?«
Ich dachte eine Weile darüber nach, dann sagte ich: »So viel Glück wie du und Charlie habe ich nicht. Ich hab niemand Besonderen, so wie du. Aber in gewisser Weise verstehe ich sehr gut, was du meinst. Man weiß nicht so recht, wo man sich niederlassen soll. Worauf sich einlassen.«
»Verdammt richtig. Gäben sie einfach alle nur Ruhe, diese ungeladenen Gäste. Gäben sie einfach nur Ruhe und ließen uns in Frieden unsere Sachen machen.«
»Weißt du, Emily, was ich vorhin gesagt habe, das war ernst. Charlie hält enorme Stücke auf dich. Und es quält ihn schrecklich, dass es in letzter Zeit zwischen euch nicht mehr gut läuft.«
Sie saß mehr oder weniger mit dem Rücken zu mir, und eine ganze Weile schwieg sie. Dann begann Sarah Vaughan mit ihrer wunderschönen, vielleicht übertrieben langsamen Version von »April in Paris«, und Emily fuhr auf, als hätte Sarah ihren Namen gerufen. Sie wandte sich zu mir, kopfschüttelnd.
»Ich fasse es nicht, Ray. Ich kann nicht glauben, dass du diese Musik nicht mehr hörst. Alle diese Platten haben wir damals gehört. Auf dem kleinen Plattenspieler, den Mum mir zum Studienbeginn geschenkt hat. Wie konntest du das nur vergessen?«
Ich stand auf und trat, das Glas in der Hand, an die Fenstertür, und als ich zur Terrasse hinüberschaute, merkte ich, dass ich Tränen in den Augen hatte. Ich öffnete die Tür und ging hinaus, um sie abzuwischen, ohne dass Emily es merkte, aber sie kam hinter mir her, also merkte sie vielleicht doch etwas, ich weiß es nicht.
Der Abend war angenehm warm, und Sarah Vaughan und ihre Band klangen deutlich bis auf die Terrasse heraus. Die Sterne waren jetzt heller, und die Lichter der Umgebung funkelten immer noch wie eine Verlängerung des Nachthimmels.
»Ich liebe dieses Lied«, sagte Emily. »Das hast du sicher auch vergessen. Aber auch wenn du’s vergessen hast, kannst du dazu tanzen, oder?«
»Ja. Das kann ich wohl.«
»Wir könnten sein wie Fred Astaire und Ginger Rogers.«
»Könnten wir.«
Wir stellten unsere Gläser auf dem Steintisch ab und begannen zu tanzen. Wir tanzten nicht fantastisch gut – zum Beispiel stießen wir ständig mit den Knien zusammen -, aber ich hielt Emily an mich gedrückt, und die Textur ihres Kleiderstoffs, ihrer Haare, ihrer Haut erfüllte meine Sinne. Wie ich sie so hielt, fiel mir wieder auf, wie viel sie zugenommen hatte.
»Du hast recht, Raymond«, sagte sie leise neben meinem Ohr. »Charlie hat recht. Wir sollten unsere Probleme in den Griff kriegen.«
»Ja. Das solltet ihr.«
»Du bist ein guter Freund, Raymond. Was täten wir ohne dich?«
»Wenn das so ist, dann freut es mich. Denn sonst tauge ich zu nicht sehr viel. Eigentlich bin ich ziemlich unnütz.«
An meiner Schulter spürte ich einen jähen Ruck.
»Sag so was nicht«, flüsterte sie. »Red nicht so.« Einen Moment später sagte sie es noch einmal: »Du bist so ein guter Freund, Raymond.«
»April in Paris« war Sarah Vaughans Version von 1954, mit Clifford Brown an der Trompete. Deshalb wusste ich, dass es ein langes Stück war, mindestens acht Minuten. Das freute mich, denn mir war klar, dass wir nach dem Lied nicht weitertanzen, sondern ins Haus gehen und das Lamm essen würden. Und so wie ich sie kannte, würde Emily noch einmal darüber nachdenken, was ich mit ihrem Taschenkalender angestellt hatte, und diesmal zu dem Schluss kommen, dass es doch kein so geringfügiges Vergehen war.
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