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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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aus dem Stiefel zieht.
    Emily stand ein paar Schritte vor dem Herd und reckte den Hals, um aus sicherer Distanz die bestmögliche Sicht auf den Topf zu haben. Sie schien von dem Anblick völlig gebannt, und als ich ein kleines Lachen ausstieß, um auf mich aufmerksam zu machen, drehte sie sich nicht um, ja sie ließ den Herd keinen Moment aus den Augen.
    Ich drückte mich an ihr vorbei und setzte mich an den Küchentisch. Endlich drehte sie sich zu mir. Sie lächelte gütig. »Das ist eine furchtbar liebe Idee von dir, Raymond.« Gleich darauf zog es ihren Blick, wie gegen ihren Willen, zum Herd zurück.
    Ich sah die umgekippte Zuckerdose – und den Taschenkalender -, und es überkam mich eine ungeheure Mattigkeit. Auf einmal wurde mir alles zu viel, und ich dachte, der einzige Weg nach vorn bestand darin, diese ganzen Spielchen aufzugeben und die Wahrheit zu sagen. Ich holte tief Luft und sagte:
    »Schau, Emily. Es kommt dir sicher alles etwas merkwürdig vor. Aber das liegt nur an diesem Terminkalender hier, diesem Tagebuch, oder was das ist.« Ich schlug die beschädigte Seite auf und zeigte sie ihr. »Es war ein großer Fehler von mir,
und es tut mir sehr leid. Aber ich hab den Kalender aus Versehen aufgeschlagen, und dann – also ich habe aus Versehen die Seite zerknittert. So …« Ich mimte eine weniger erbitterte Version meiner Geste, dann sah ich sie an.
    Zu meinem Erstaunen warf sie lediglich einen flüchtigen Blick auf ihren Kalender und wandte sich wieder dem Topf zu. »Ach, das ist nur so ein Schmierheft«, sagte sie. »Nichts Privates. Mach dir deswegen keine Gedanken, Ray.« Dann trat sie einen Schritt näher an den Herd, um den Topf genauer zu begutachten.
    »Was meinst du? Was heißt, ich soll mir keine Gedanken machen? Wie kannst du das sagen?«
    »Was hast du, Raymond? Es ist nur ein Heft, in dem ich mir Sachen notiere, damit ich sie nicht vergesse.«
    »Aber Charlie sagte, du rastest aus!« Dass Emily offensichtlich nicht mehr wusste, was sie über mich geschrieben hatte, ließ meine Entrüstung anschwellen.
    »Wirklich? Charlie sagte, ich würde wütend werden?«
    »Ja! Er sagte sogar, dass du ihm die Eier abschneiden würdest, wenn er je in diesem Kalender herumschnüffelt; das hast du zu ihm gesagt!«
    Ich war nicht sicher, ob Emilys befremdete Miene mit meiner Bemerkung im Zusammenhang stand oder ob sie ein Nachhall des Blicks in den Kochtopf war. Sie setzte sich neben mich und schwieg einen Moment nachdenklich.
    »Nein«, sagte sie schließlich. »Da ging es um was anderes. Jetzt weiß ich es wieder. Letztes Jahr, ungefähr um dieselbe Zeit, war Charlie wegen irgendwas sehr deprimiert und fragte, was ich tun würde, wenn er Selbstmord beginge. Das war nur ein Test, in Wirklichkeit ist er viel zu feige, um so was zu tun. Aber er fragte eben, also sagte ich, wenn er irgendwas in
der Art unternimmt, schneide ich ihm die Eier ab. Das ist das einzige Mal, dass ich das je zu ihm gesagt habe. Ich meine, es ist kein Standardspruch von mir.«
    »Das versteh ich nicht. Du würdest ihm das antun, wenn er Selbstmord begeht? Danach?«
    »Es war nur eine Redensart, Raymond. Ich wollte ihm klarmachen, wie schrecklich ich es fände, wenn er sich umbringen würde. Ich wollte, dass er sich geschätzt fühlt.«
    »Du verstehst nicht, was ich meine. Wenn du’s danach tust, ist das nicht unbedingt eine Abschreckung, oder? Aber vielleicht hast du recht, und es wäre schon eine …«
    »Raymond, lassen wir das. Vergessen wir das alles. Von gestern ist noch geschmortes Lamm übrig, mehr als die Hälfte. Gestern Abend war es schon ziemlich gut, und heute wird es noch besser sein. Und wir machen uns einen schönen Bordeaux dazu auf. Es ist superlieb von dir, dass du uns was kochen wolltest. Aber heute Abend ist das Lamm sicher die ideale Lösung, meinst du nicht?«
    Jeder Versuch einer Erklärung schien mir jetzt jenseits meiner Fähigkeiten. »Okay. Okay, geschmortes Lamm. Super. Ja, ja.«
    »Also … können wir das hier vorläufig wegtun?«
    »Ja, ja. Bitte. Bitte tu’s weg.«
    Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer hinüber – das natürlich immer noch ein Chaos war, aber ich hatte keine Energie mehr, um mit dem Aufräumen anzufangen. Ich legte mich aufs Sofa und starrte an die Decke. Irgendwann kam Emily herein, und ich dachte, sie wollte durchs Zimmer in die Diele, aber dann merkte ich, dass sie in der gegenüberliegenden Ecke kauerte, dass sie Musik auflegte. Im nächsten Moment füllte sich der Raum mit

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