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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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satten Geigenklängen, einem bluesigen
Horn und Sarah Vaughans Stimme, die »Lover Man« sang.
    Eine Welle der Erleichterung und Behaglichkeit überkam mich. Zu dem langsamen Takt nickend schloss ich die Augen und dachte daran, wie wir vor vielen Jahren in ihrem Studentenzimmer eine geschlagene Stunde lang darüber gestritten hatten, ob Billie Holiday dieses Lied immer besser gesungen hat als Sarah Vaughan.
    Emily tippte mir auf die Schulter und reichte mir ein Glas Rotwein. Sie trug eine rüschenbesetzte Schürze über ihrem Geschäftskostüm und hatte ebenfalls ein Glas in der Hand. Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas neben meine Füße und nahm einen Schluck. Dann drehte sie mit der Fernbedienung die Lautstärke ein wenig herunter.
    »Es war ein furchtbarer Tag«, sagte sie. »Ich meine nicht nur die Arbeit, wo es total chaotisch zugeht. Ich meine Charlies Abreise, alles. Glaub nicht, dass es mir nicht wehtut, wenn er einfach ins Ausland fliegt, ohne dass wir uns versöhnt haben. Und dann, zur Krönung des Ganzen, drehst du auch noch durch.« Sie seufzte tief.
    »Nein, wirklich, Emily, so schlimm ist es nicht. Erstens hält Charlie große Stücke auf dich. Und was mich betrifft, mir geht’s gut. Wirklich gut.«
    »Quatsch.«
    »Nein, wirklich, mit mir ist alles bestens …«
    »Ich meine, dass Charlie große Stücke auf mich hält.«
    »Ah, verstehe. Also wenn du das für Quatsch hältst, irrst du dich total. In Wirklichkeit weiß ich, dass Charlie dich mehr liebt denn je.«
    »Woher willst du das wissen, Raymond?«
    »Ich weiß es, weil … Also erstens hat er es mir mehr oder
weniger so gesagt, heute Mittag beim Essen. Und selbst wenn er es nicht ganz wörtlich so gesagt hat, weiß ich es. Schau, Emily, ich weiß, dass es im Moment bei euch nicht so toll läuft. Aber dabei darfst du das Wichtigste nicht aus den Augen verlieren. Nämlich dass er dich immer noch sehr liebt.«
    Sie seufzte wieder. »Weißt du, diese Platte hab ich seit Jahren nicht gehört. Und das liegt an Charlie. Wenn ich diese Art Musik auflege, fängt er sofort zu stöhnen an.«
    Eine Weile sprachen wir nicht, sondern lauschten nur Sarah Vaughan. Dann, als ein instrumentales Zwischenstück anfing, sagte Emily: »Dir ist ihre andere Version dieses Songs lieber, oder, Raymond? Die Aufnahme nur mit Klavier und Bass.«
    Ich gab keine Antwort; ich stemmte mich nur ein wenig hoch, um besser aus dem Glas trinken zu können.
    »Ich wette«, sagte sie. »Dir ist die andere Version lieber. Stimmt doch, oder?«
    »Tja«, sagte ich, »ich weiß es eigentlich nicht. Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht an die andere Version.«
    Ich spürte, wie sie am anderen Ende des Sofas ihre Position veränderte. »Das ist nicht dein Ernst!«
    »Komischerweise höre ich solche Musik in letzter Zeit kaum. Eigentlich habe ich fast alles vergessen. Ich bin nicht mal sicher, wie dieser Song überhaupt heißt.« Ich lachte kurz, was vielleicht nicht gut ankam.
    »Was redest du?« Sie klang auf einmal ungehalten. »Das ist doch lächerlich. Sofern man an dir keine Lobotomie vorgenommen hat, kannst du das unmöglich vergessen haben.«
    »Na ja. Es sind viele Jahre vergangen. Manches verändert sich.«
    »Wovon redest du?« Jetzt war ein Anflug von Panik in ihrem Tonfall. »So stark kann es sich nicht verändern.«

    Weil ich sie von dem Thema unbedingt wieder abbringen wollte, sagte ich: »Tut mir leid, dass es bei dir im Büro so zugeht.«
    Emily ging überhaupt nicht darauf ein. »Also was meinst du? Du meinst, diese gefällt dir nicht? Ich soll sie abdrehen, meinst du das?«
    »Nein, nein, Emily, bitte nicht, es ist sehr schön. Es … es lässt Erinnerungen wiederaufleben. Bitte, lass uns doch einfach wieder friedlich und locker sein, wie vor einer Minute.«
    Sie seufzte abermals, und jetzt war ihr Ton wieder besänftigt, als sie sagte: »Entschuldige, Lieber, ich hab nicht dran gedacht – dass ich dich anschreie, ist wirklich das Letzte, was du jetzt brauchst. Tut mir leid!«
    »Aber nein, ist schon okay.« Ich rappelte mich noch weiter auf, bis ich saß. »Weißt du, Emily, Charlie ist ein anständiger Kerl. Ein sehr anständiger Kerl. Und er liebt dich. Besser kannst du’s nicht treffen.«
    Emily zuckte mit einer Schulter und nahm einen Schluck Wein. »Du hast wahrscheinlich recht. Und wir sind ja weiß Gott nicht mehr jung. Wir sind beide gleich schlimm. Wir sollten uns glücklich schätzen. Aber anscheinend können wir nie zufrieden sein. Ich weiß nicht,

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