Bei Anbruch der Nacht
Ich wollte mich einfach bei ihr beliebt machen!«
»Also, Charlie, du bist nicht mit ihr ausgegangen, geschweige denn mit ihr ins Bett – was soll das? Was ist das Problem?«
»Das Problem ist, dass ich so gern jemanden hätte wie sie, jemanden, der diese zweite Seite in mir zum Vorschein bringt, diese gefangene Seite …«
»Charlie, hör mir zu. Seit deinem letzten Anruf habe ich mich ziemlich zusammengerissen. Und offen gestanden, ich finde, du solltest dich ebenfalls zusammenreißen. Wir können das alles besprechen, wenn du wieder da bist. Aber in einer Stunde oder so kommt Emily zurück, und bis dahin muss ich hier so weit fertig sein. Ich hab die Situation jetzt im Griff, Charlie. Ich nehme an, das hörst du an meiner Stimme.«
»Scheißfantastisch, Mann! Du hast die Situation im Griff. Toll! Ein Scheißfreund …«
»Charlie, ich glaube, du bist aufgeregt, weil dir dein Hotel nicht passt. Aber du musst dich jetzt zusammennehmen. Die Perspektive zurechtrücken. Mut fassen! Ich habe die Situation hier im Griff. Ich ziehe diese Hundegeschichte durch, dann spiele ich meine Rolle bis an die Grenze des Möglichen, für dich. Emily, werd ich sagen, Emily, schau mich an, schau nur, wie jämmerlich ich bin. Tatsache ist, dass die meisten Leute genauso jämmerlich sind. Nur Charlie, der ist anders. Charlie ist eine andere Liga.«
»Das kannst du nicht sagen. Das klingt total unnatürlich.«
»Natürlich werd ich es nicht wörtlich so formulieren, du Idiot. Überlass das einfach mir. Ich habe alles unter Kontrolle. Also beruhig dich. Ich muss jetzt Schluss machen.«
Ich legte das Telefon auf den Küchentisch und betrachtete den Topf. Die Flüssigkeit kochte inzwischen, und es dampfte ordentlich, aber einen Geruch registrierte ich nicht, noch nicht. Ich drehte die Flamme niedriger, bis es zart brodelte. Nun überkam mich ein dringendes Bedürfnis nach frischer Luft, und nachdem ich die Dachterrasse noch nicht in Augenschein genommen hatte, öffnete ich die Küchentür und trat hinaus.
Für einen englischen Abend Anfang Juni war es überraschend mild. Nur der Anflug einer Kühle sagte mir, dass ich nicht zu Hause in Spanien war. Der Himmel war noch nicht ganz dunkel, aber es funkelten schon die ersten Sterne. Jenseits der Terrassenbegrenzungsmauer sah ich auf Meilen im Umkreis die Fenster und Hinterhöfe der benachbarten Anwesen. Viele Fenster waren erleuchtet, und wenn man die Augen zusammenkniff, sahen die fernen Lichter fast aus wie eine Fortsetzung des Sternenhimmels. Groß war diese Dachterrasse nicht, aber sie hatte etwas sehr Romantisches. Man konnte sich gut vorstellen, wie ein mitten im geschäftigen urbanen Leben stehendes Paar an warmen Abenden hier herauskommt und Arm in Arm zwischen den Topfpflanzen umherschlendert und sich gegenseitig vom Arbeitstag erzählt.
Ich wäre noch viel länger draußen geblieben, aber ich fürchtete, meinen Elan zu verlieren. Ich kehrte in die Küche zurück und ging an dem sprudelnden Topf vorbei bis zur Wohnzimmertür, um mein bisheriges Werk zu betrachten. Der Hauptfehler, ging mir auf, lag darin, dass ich es vollständig verabsäumt hatte, die Aufgabe aus der Sicht eines Geschöpfes wie Hendrix zu betrachten. Entscheidend war doch, dass ich mich in Hendrix’ Wesen und Sichtweise versetzte.
Sobald mir das klar geworden war, erkannte ich nicht nur die Unangemessenheit meiner früheren Bemühungen, sondern auch, wie absurd Charlies Anregungen in der Mehrzahl gewesen waren. Warum sollte ein übermütiger Hund eine kleine Porzellanfigur von einer Hi-Fi-Anlage herunterziehen und zerschmettern? Und die Idee, das Sofa aufzuschlitzen und die Füllung herauszureißen, war völlig idiotisch: Um so etwas zu schaffen, hätte Hendrix Rasiermesserzähne gebraucht. Die umgekippte Zuckerdose in der Küche war in Ordnung, aber die Verwüstung im Wohnzimmer, erkannte ich, musste von Grund auf neu konzipiert werden.
Auf allen vieren betrat ich den Raum, um ihn mehr oder weniger aus Hendrix’ Augenhöhe zu betrachten. Auf der Stelle entpuppten sich die auf dem Couchtisch gestapelten Illustrierten als naheliegendes Ziel, und ich wischte sie auf einer Flugbahn vom Tisch, die dem Schwung einer ungestümen Hundeschnauze entsprach. Wie die Zeitschriften auf dem Boden gelandet waren, sah zufriedenstellend echt aus. Ermutigt kniete ich nieder, schlug eine Illustrierte auf und zerknüllte eine Seite in einer Weise, die hoffentlich ein Echo in Emilys Kalender fände, wenn sie ihn dann
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